Dienstag, 7. Juli 2020

Un sac de billes - A Bag Of Marbles - Ein Sack voll Murmeln (2017)

https://www.imdb.com/title/tt5091612/

Im Jahr 1941 erobern die Nazis nach und nach Frankreich. Vor allem in Paris wird es deswegen für jüdische Franzosen wie die Familie Joffo zu gefährlich. Die Joffos planen die Flucht nach Südfrankreich, das noch nicht von den deutschen Truppen besetzt ist. Doch weil eine gemeinsame Reise als Familie zu gefährlich wäre, verfallen sie auf einen Plan: Der zehnjährige Joseph (Dorian Le Clech) und sein älterer Bruder Maurice (Batyste Fleurial) sollen sich zunächst alleine auf den Weg machen, die Eltern reisen dann später hinterher. Die beiden Jungen erwartet ein gefährliches Abentuer, bei dem stets die Gefahr besteht, dass sie als jüdische Flüchtlinge enttarnt werden. Und auch wenn es ihnen ein ums andere Mal gelingt, den Nazis zu entkommen, ist ungewiss, ob sie an ihrem Ziel ankommen und ob auch ihrer restlichen Familie die Flucht in den Süden gelingt...

1975 wurde der gleichnamige autobiografische Roman schon einmal verfilmt, in dem Joseph Joffo seine Erfahrungen als junger Jude im besetzten Frankreich des Zweiten Weltkriegs verarbeitete, zwei Jahre nach Erscheinen des Buches. Ob es nun zwangsweise eine Neuverfilmung gebraucht hätte, ist in einem solchen Fall immer fraglich, schließlich lässt sich an der Geschichte selbst nur wenig aktualisieren. Andererseits ist es eine gute Geschichte, eine erzählenswerte Geschichte, die den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts durch die Augen zweier Jungen wiedergibt. Dabei lässt sich nicht nur viel über die damalige Zeit lernen. Grundsätzliche Überlegungen zu Mut und Opferbereitschaft - die funktionieren heute so gut wie damals.

"Es ist besser eine Ohrfeige zu ertragen, als das Leben zu verlieren, weil man Angst vor der nächsten hat!" - Der besorgte Vater schwört seine beiden jüngsten jüdischen Söhne ein, auf das, was unvermeidlich früher oder später kommen wird. Und diese Szene geht so dermaßen unter die Haut, dass unkontrolliert Tränen aufstiegen, zumal die Jungen mit erstklassigem Schauspiel zu überzeugen wissen. Abrupt endet die bis dahin mehr oder minder unbeschwerte Kindheit, während der Flucht innerhalb Frankreichs in den noch unbesetzten Teil des Landes, wo bereits die beiden älteren Brüder warten. Und jeder sollte nachfühlen können, was in den Eltern vorgeht, wenn sie ihre Kinder in die Nacht hinauslaufen sehen.

Ungewöhnlich und gleichzeitig erschreckend schön sind oft die Bilder, die der kanadische Regisseur Christian Duguay und sein Filmteam von der Odyssee mitgebracht hat. Die idyllischen Aufnahmen in Paris, das warme Urlaubsgefühl im Süden, dazwischen jede Menge freundlicher Naturzauber. Streckenweise vergisst man in "Ein Sack voll Murmeln", dass überhaupt Krieg herrscht. Dass die zwei Jungs nicht einfach nur die Sommerferien für eine Rundreise nutzen. Das könnte der eine oder andere als befremdlich empfinden. Als verharmlosend. Die Millionen von Juden, die während dieser Jahre barbarisch ermordet wurden, sie finden hier kein visuelles Pendant. Es ist nicht einmal so, dass ein Kontrast aus Idylle und Terror, wie zum Beispiel in "Das Leben ist schön" effektiv genutzt würde. Und doch ist es nicht zwangsweise ein Versäumnis der französischen Produktion, eine etwas eigene Sicht der Dinge zu entwickeln. Zum einen richtet sich der Film eben auch an Kinder und soll ihnen behutsam vor Augen führen, was es damals bedeutete, Jude zu sein. Da dies relativ ruhig und besonnen geschieht, bleibt hier sehr viel Zeit zur Charakterzeichnung und die beiden Jungdarsteller können ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Die Handlung wird sehr einfühlsam erzählt und die Dialoge wirken stets realistisch und nicht gestelzt. Die meisten Gräueltaten und furchtbaren Ereignisse finden unbeachtet von der Kamera statt, weshalb "Ein Sack voll Murmeln" durchaus auch für den Schulunterricht geeignet sind.

Die vermeintliche Harmlosigkeit ist aber auch aus einem anderen Grund angemessen: "Ein Sack voll Murmeln" ist keine Abbildung des Holocausts, sondern die Geschichte zweier Kinder, die keine Ahnung von den Vorkommnissen haben. Die sich einen Spaß draus machen, deutsche Soldaten in einen jüdischen Friseursalon zu lotsen. Die einen Judenstern für den titelgebenden Sack voll Murmeln verkaufen, ohne sich dessen Bedeutung bewusst zu sein. Die Reise durch Frankreich, sie gleicht daher auch der Reise ins Erwachsenenalter. Eine Reise, die viele Erkenntnisse mit sich bringen wird, rührende wie erschreckende Begegnungen. Teils gönnt sich der Film da Abkürzungen. Manche Abschnitte werden so schnell abgehakt, dass das zeitliche Gefühl völlig verloren geht. Über vieles erfährt man auch kaum etwas. Die beiden älteren Brüder? Wir wissen, dass es sie gibt. Sie spielen in der Erzählung aber keine Rolle. Und doch sind es eben diese Familienmomente, die den Kindern Kraft geben. Die einem auch als Zuschauer zu Herzen gehen. Vor allem die Szenen der beiden Jungs, wie sie herumalbern und sich gegenseitig Halt geben, sind unglaublich rührend und charmant von den beiden Nachwuchsdarstellern gespielt. "Ein Sack voll Murmeln" erinnert daran, dass solche Szenen des Glücks vielleicht gewöhnlich, aber eben doch nicht selbstverständlich sind. Und daran darf man doch gern auch mehrfach erinnert werden.

7,5/10

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