https://www.imdb.com/title/tt7106506/
Österreich im Jahr 1963: Franz Murer (Karl Fischer), ein angesehener Lokalpolitker und Großbauer steht vor Gericht, weil er von 1941 bis 1943 schwere Kriegsverbrechen begangen hat und als "Schlächter von Vilnius" zahlreiche Juden in der litauischen Hauptstadt ermorden ließ. Obwohl er dort wegen Mordes verurteilt wurde, saß er nur fünf Jahre ab und wurde freigelassen - allerdings unter der Bedingung, dass der Prozess gegen ihn in Österreich wieder aufgenommen wird. Das ist aber aus sehr obskuren Gründen niemals geschehen. Doch dann entdeckt der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal (Karl Markovics) durch Zufall, dass Murer straffrei in der Steiermark lebt, und veranlasst, dass sich der eigentlich längst Verurteilte nun doch noch vor Gericht für seine Taten rechtfertigen muss. Zwanzig Jahre nach seinen Gräueltaten wird ihm auch durch internationalen Druck doch noch der Prozess in seiner Heimat gemacht. Dutzende von Zeugen werden eingeflogen aus aller Welt, Opfer und Befürworter des vermeintlichen Verbrechers stehen sich vor den Augen aller im Gerichtssaal gegenüber...
Mehr als sieben Jahrzehnte ist es inzwischen her, dass der Schreckensherrschaft der Nazis ein Ende gesetzt wurde. Doch noch immer beschäftigt die Zeit Filmemacher aus aller Welt, sei es in Form von Kriegsfilmen, persönlichen Dramen oder auch Dokumentarfilmen, welche einzelne Aspekte beleuchten. So erschienen dieses Jahr gleich zwei österreichische Werke, welche sich mit der schwierigen, unbequemen Aufarbeitung eigener vergangener Verbrechen beschäftigte. Erst nahm sich die Dokumentation Waldheims Walzer den ehemaligen österreichischen UN-Generalsekretär und Bundespräsidenten Kurt Waldheim zur Brust, der seine NS-Vergangenheit leugnete. Nun folgt der Spielfilm "Murer: Anatomie eines Prozesses", der ebenfalls von einem Österreicher erzählt, der im Nachhinein von allem nichts gewusst haben will. Das war im Fall Murer besonders bitter: Der auch als "Schlächter von Vilnius" bekannte Österreicher soll maßgeblich daran beteiligt gewesen sein, dass in der litauischen Hauptstadt die Zahl der Juden von 80.000 auf nur noch 600 sank. Die Verbrechen selbst werden dabei nicht gezeigt, der Film spielt - wie der Titel bereits verrät - ausschließlich während des Prozesses, der ihm 1963 gemacht wurde. Dass er schuldig ist, daran lässt "Murer: Anatomie eines Prozesses" jedoch keinen echten Zweifel. Zu eindeutig legt der Film anfangs fest, wer hier gut, wer böse ist. Murer muss gar nicht viel sagen oder tun, um in ihm das Monster zu sehen, als das er geschildert wird.
Stattdessen appelliert Regisseur und Drehbuchautor Christian Frosch an die Wut des Publikums, an dessen Empörung. Wie kann es sein, dass jemand, der so offensichtlich schuldig ist, frei herumlaufen darf? Die Antwort des Filmemachers ist nicht minder schrecklich: Er zeichnet das Bild eines Landes, das nicht nur viele Jahre nach dem Dritten Reich noch immer braunes Gedankengut in sich herumträgt, geradezu stolz, sich vor der eigenen Verantwortung drückt, sich sogar als reines Opfer der Deutschen positionieren will. Und als Opfer von internationalen Verschwörungen, die gemeinsam mit dreisten Lügen unbescholtenen Bürgern das Leben zur Hölle machen. Man braucht da nicht sonderlich viel Transferleistung, um dabei an neuerliche, bedenkliche Entwicklungen zu denken. Es mögen mehr als 50 Jahre seit dem Prozess vergangen sein, das Thema selbst bleibt aktuell, die Mechanismen funktionieren heute wie damals - inklusive eines Verweises auf die Lügenpresse. Die Aufarbeitung durch Frosch ist sicher nicht sonderlich oder um Differenziertheit bemüht, wirkungsvoll und spannend ist sie aber ohne Zweifel. Die Vielzahl an Zeugen und Beteiligten, mehrere Dutzend Figuren mischen hier mit, verschmelzen zu einem ausführlichen Mosaik des Grauens, wenn immer neue Details ans Tageslicht gelangen.
Und auch optisch tut Frosch eine ganze Menge dafür, dass der Film trotz einer Laufzeit von fast 140 Minuten und eines bekannten Ausganges nicht langweilig wird. Immer wieder kommen ungewöhnliche Perspektiven zum Einsatz, gerade zu Beginn auch viele Schnitte. So viele, dass einem schon mal etwas schwindlig werden kann, während man versucht, den Überblick über das Geschehen und die vielen Figuren zu behalten. Nach und nach werden aus den vielen Stimmen aber wenige, wird aus den Momentaufnahmen eine gesellschaftliche wie persönliche Aufarbeitung, die dem Thema zwar nichts Neues beizutragen hat, aber doch an dessen Wichtigkeit erinnert. Denn da sind noch mehr Schlächter da draußen, gekleidet in volksnaher Unschuld. Ihnen wird nur nicht immer der Prozess gemacht. Immer wieder gleitet Frank Amanns Kamerablick langsam von einem der Prozessbeteiligten zum anderen. Mal rückt er einen der Zeugen in den Fokus, die im Zuge ihrer Aussagen die ganzen Gräuel der NS-Verbrechen noch einmal durchleben, mal fällt er auf die Zuschauer im Saal, die ihr Urteil längst gefällt haben. Die langen Brennweiten, mit denen Amann arbeitet, erzeugen ein Gefühl von physischer Nähe. Es ist, als säße man mit im Gerichtssaal. So entsteht aus unzähligen kleinen Beobachtungen ein großes gesellschaftliches Panorama. In den Vorgängen in und um den Gerichtssaal offenbart sich das wahre Gesicht Österreichs. Der Prozess gegen den "Schlächter von Vilnius" wird zu einem gegen ein ganzes Land, das seine Geschichte ohne Rücksicht auf die Opfer umschreibt.
"Ich habe nur meine Pflicht getan", das ist die Entschuldigung, die immer wieder von Seiten der Täter und ihrer Helfershelfer bemüht wird. Selbst Murers Anwalt, der in seinem Schlussplädoyer gezielt antisemitische Ressentiments schürt, wird sich am Ende hinter dieser Phrase verstecken. Nur entschuldigt sie nichts. Sie klagt den, der zu ihr greift, vielmehr an. "Murer: Anatomie eines Prozesses" rekonstruiert den Prozess an einem österreichischen NSDAP-Mann, der für den Tod Tausender Juden in Litauen verantwortlich war - und dennoch frei herumlief. Das ist nicht sonderlich subtil, aber doch ungewöhnlich inszeniert und vor allem effektiv darin, Empörung im Publikum zu wecken.
8/10
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