Als Kind bekommt Jeannette Walls (Chandler Head, später: Ella Anderson) von ihrem Vater Rex (Woody Harrelson) jede Menge abenteuerlicher Geschichten erzählt, etwa davon, wie sie gemeinsam auf die Jagd nach Dämonen gehen, wie er ihr die Sterne vom Himmel holt oder wie er ihr ein Schloss aus Glas baut. Diese Geschichten entschädigen sie dafür, dass sie oft hungrig ins Bett muss, dass ihre exzentrische Künstlermutter Rose Mary (Naomi Watts) eine Egomanin ist und die Familie auf der Flucht vor Gläubigern oft überstürzt den Wohnort wechselt, und sorgen dafür, dass Jeanette trotz aller Armut ein glückliches Kind ist. Irgendwann aber wird die Armut zu drückend, als dass sich Jeanette noch von den Erzählungen ihres alkoholkranken Vaters ablenken lässt. Die Lügen der Eltern brechen zusammen. Auch als erwachsene Frau leidet Jeanette (jetzt: Brie Larson), die mittlerweile eine erfolgreiche Kolumnistin geworden ist, noch immer unter ihrer schwierigen Kindheit. Als sie eines Tages zufällig ihre Eltern wiedersieht, während diese in Mülltonnen nach Essen suchen, beschließt sie, den Kontakt zu ihnen wiederaufzunehmen...
Das Leben schreibt manchmal unglaubliche Geschichten und manchmal auch unglaublich grausame - in "Schloss aus Glas" war es letztere. Die Vorstellung, dass das was man hier zu sehen bekommt, einen realen Background hat und so wirklich passiert ist , macht einen (als Elternteil) beim Schauen geradezu wütend. Schon in seinem letzten Film ("Short Term 12") beschäftigte sich Destin Daniel Cretton mit der Tatsache, dass Familie etwas ist, das man sich nicht aussuchen kann. So erzählt "Schloss aus Glas" die Geschichte einer jungen Frau, die ihrer dysfunktionalen Familie entkam, um erfolgreich im Leben anzukommen. Das hat einzelne starke Momente, auch der prominenten Besetzung wegen. Woody Harrelson und Brie Larson spielen hervorragend; auch Naomi Watts und Ella Anderson sind stark besetzt. Allein weil Harrelson und Watts den Zuschauer oft wütend machen - das ist eine Leistung. "Schloss aus Glas" verzichtet aber zu oft auf jegliche Subtilität, statt organischer Entwicklung sind hier wundersame Sprünge und zum Schluss viel Zuckerguss angesagt. Auch wenn Rex durch seinen Alkoholismus und dem damit einhergehenden, regelmäßigen Verlust von Jobs kaum mehr fähig ist, für seine Familie zu sorgen, was er sich in Anwesenheit seiner Kinder in teilweise schmerzhaft eindringlichen Augenblicken selbst eingestehen muss, verweist der Regisseur im Verhalten des Vaters unentwegt auf die schwierigen Facetten dieser Krankheit, die gleichermaßen von Höhen und Tiefen begleitet wird. Doch gerade die Alkoholsucht des Vaters und der damit verbundenen Tragik, gepaart mit Aussteigerromatik wird zu bagatellisiert dargestellt. Gerade am Schluß kommt es so rüber, als wäre ja alles nur halb so wild gewesen.
Doch "Schloss aus Glas" ist einer dieser Filme, bei denen man von Anfang an weiss, dass er gefallen wird, obgleich die Thematik schwere Kost ist, die Filmemacher ihn unnötig in die Länge ziehen und somit immer mal wieder die Spannung aus der Geschichte nehmen. Das ist in der Tat ärgerlich. Nichtsdestotrotz beschert einem die Buchverfilmung durch seinen Cast einige wunderschöne Filmmomente die sich im Gedächtnis einbrennen und lassen die Schwäche beinahe ausblenden. Das Leid der Familie verkommt unter Crettons Regie trotzdem nie zum voyeuristisch-manipulativen Faktor, sondern wird von vielen Momenten ergänzt, in denen vor allem die Ambivalenz der komplexen Vaterfigur eine wichtige Rolle spielt. Neben den unverantwortlichen Handlungen und schockierenden Missständen, die Cretton aus Jeannettes Biographie keineswegs ausspart, stellt sich "Schloss aus Glas" in Teilen auch als eine persönliche Huldigung an die mitunter kreativen, aufopferungsvollen Gesten eines Vaters heraus, der nicht nur unentwegt mit dem Kopf in den Wolken hängt, wenn es um die Zukunft seiner Familie geht, sondern seinen Kindern beispielsweise anbietet, dass sich diese einen Stern am Himmel aussuchen dürfen, da ihm kein Geld für den Kauf von Weihnachtsgeschenken zur Verfügung steht.Zwischen berührenden Einlagen, die sich nur selten am Rande von
verklärendem Kitsch bewegen, hartem Realismus, der die ausweglose
Situation dieser Familie ein ums andere Mal schonungslos abbildet, und
einem sprunghaften Erzählrhythmus, der die verschiedenen Zeitebenen
aufgrund der tollen Darsteller in weitestgehend sinnvollen Übergängen
verknüpft, wirkt "Schloss aus Glas" lediglich gegen Ende zu
glattgebügelt und versöhnlich. Obwohl die Autorin ihrer eigenen
Geschichte im Nachhinein selbst einen Artikel veröffentlichte, in dem
sie für Crettons Umgang mit der Vorlage überaus lobende Worte fand und
Befürchtungen einer möglichen "Hollywoodisierung" zerschlug, erscheinen
die Ecken und Kanten, die der Regisseur im Laufe des Films in seinem
Film anbringt, ganz zum Schluss dann doch etwas zu abgerundet und sauber
abgeschliffen. Ein talentierter, emotional hingebungsvoller Regisseur,
der großartige Schauspielführung längst auf bemerkenswerte Weise
verinnerlicht zu haben scheint, bleibt der 38-jährige Filmemacher aber
weiterhin.
8/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Studiocanal
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