Die Geschäftsfrau Michèle (Isabelle Huppert) ist erfolgreiche Leiterin einer großen Videospielfirma und gehört zu den großen Namen in der Branche. Ihren Erfolg verdankt sie vor allem ihrer rigorosen, rücksichtslosen Arbeitsweise, die auch ihre Konkurrenten zu spüren bekommen. In ihrem Liebesleben zeigt die Karrierefrau dieselbe unterkühlte Attitüde wie im Berufsleben. Doch als Michèle eines Tages in ihrem Zuhause von einem Fremden überfallen und brutal vergewaltigt wird, verändert sich ihr Leben schlagartig. Dass der Täter draußen unerkannt herumläuft, lässt Michèle keine Ruhe, doch Anzeige erstatten will sie nicht. Mit eisernem Willen entschließt sie sich dazu, auf eigene Faust die Spuren ihres Peinigers zu verfolgen, um sich an ihm zu rächen. Michèles riskantes Unterfangen gerät schon bald außer Kontrolle...
Direkt zu Beginn die Vergewaltigung, die der Zuschauer nur hört, aber nicht sieht. Aha, denkt man im Stillen, das will der holländische Regiesseur Paul Verhoeven dem Zuschauer ersparen. Aber falsch gedacht. Er wird uns bis zum Schluss immer wieder an der Nase herumführen, mit Erwartungen spielen und das tut er meisterlich. Der Beginn ist also bereits ein Schlag in die Magengrube und alles was danach folgt höchst suspekt. "Elle" ist wahrlich kein einfach zu verdauender Film. Inmitten der Konventionen brechenden Erzählung rund um das Opfer einer Vergewaltig spielt Isabelle Huppert meisterhaft und führt alle an der Nase herum. Zum Teil auch sich selbst. Gegen jede Erwartung entwickelt sich hier ein Schauspiel, dass faszinierend und abstoßend zugleich ist. Die Schauspielerin verleiht der Figur so unglaublich viele Facetten und schafft es, die seelische Zerstörtheit dieser Frau glaubhaft zu spielen.
"Elle" ist ein einzigartiges Erlebnis, welches die moralischen und filmischen Grenzen der Zuschauer auslotet und mit seiner Unverfrorenheit sämtliche Rollenbilder auf den Kopf stellt. Das spitzt sich bisweilen zu einem packenden und waschechten Thriller zu, um dann mit der nächsten Offenbarung zu überraschen. Dabei funktionieren aber nicht alle Subplots und gerade jener um den Sohn der Protagonistin fühlt sich arg konstruiert und fremd an. Der Vorwurf, der Film bagatellisiere Vergewaltigung, wurde oft in Rezensionen thematisiert. Aber man muss konstatieren: Nein, das tut er nicht. Er stellt Vergewaltigung nicht als lustvolle Tat eines vollbeherrschten, guten Menschen dar, daher ist keine der Vergewaltigungen erotisch im Sinne einer erregenden Wirkung. Der Täter ist ein dissozierter Psychopath, der zu liebevollem Sex unfähig ist, die Schreie während der Tat klingen nie lustvoll, immer gequält, es wird von Michèle als "krank" bezeichnet, sie hat Rachefantasien, der Vergewaltiger kommt auch nicht gut davon. Es ist schade, wenn man in der Bewertung des Films einfach bei der simplen Empörung über die Vergewaltigung stehen bleibt und gar nicht nach den tieferen Schichten und Zusammenhängen fragt. Michèle ist voller "Altlasten": ganz tief sitzende Schuld und Groll gegen ihren Vater, Konflikte mit der Mutter, das Scheitern der Beziehung zu Richard, der Sohn, der auch nichts merkt, etc. Dass Michèle nicht direkt die Polizei ruft, ist sehr realistisch. Viele Opfer sind völlig verwirrt, geben sich selbst die Schuld, sind traumatisiert. Genau wie diese muss Michèle erst wieder zu sich selbst finden. Und davon handelt der Film.
Somit handelt es sich hier nicht wirklich um einen Thriller sondern eher um ein tiefgründiges Psycho-Drama. Spannung gibt es daher nur teilweise. Viel mehr muss man versuchen, sich in die Figur der Michèle Leblanc einzufühlen. Das kann schon unangenehm und manchmal auch anstrengend sein. Alles in allem ist das kein angenehmer Film, aber aufgrund der fantastischen Leistung Hupperts kann man sich hier schon in den Sog menschlicher Abründe ziehen lassen.
Unkonventionell, unmoralisch und dennoch faszinierend. Paul
Verhoevens Werk lotet mit einer beeindruckenden Isabelle Huppert und
seiner höchstkontroversen Thematik die Grenzen des Zuschauer aus. Der Film leistet, was reaktionäre Feministinnen und die übliche Schar
von hypermoralisierenden Medien-Richtern nicht zu Stande bringen: Er
hat den Mut zu differenzieren. Und zum Glück hat er einen fähigen
Stab, der diese schwierige Aufgabe zu lösen versteht.
7,5/10
Quellen:
Inhaltsangabe: MFA
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