Montag, 9. November 2020

کفرناحوم - Capharnaüm - Capernaum: Stadt der Hoffnung (2018)

https://www.imdb.com/title/tt8267604/

Das Leben des jungen Libanesen Zain (Zain Al Rafeea) ist chaotisch. Denn der 12-Jährige (zumindest wird er auf dieses Alter geschätzt) sitzt schon im Gefängnis. Es wird ihm vorgeworfen jemanden niedergestochen zu haben. Nun verbüßt er seine Strafe in einer Jugendhaftanstalt in Beirut. Seine Eltern (Kawthar Al Haddad und Fadi Kamel Youssef) sieht er vor Gericht wieder, aber nicht, weil sie gekommen sind, um ihren Sohn zu unterstützen, sondern weil Zain sie verklagt hat. Der Grund: Sie haben ihn in diese Welt gesetzt. Nun will er verhindern, dass seine Eltern weitere Kinder bekommen, die auch in diese schreckliche Welt voller Chaos und Krieg hineingeboren werden. Also schildert Zain dem Richter seine dramatischen Lebensumstände und lässt dabei keine Details aus. Er erzählt von seiner großen Familie, die unter ärmsten Bedingungen auf wenigen Quadratmetern miteinander lebt und er erzählt davon, wie sein Vater eines Tages Zains geliebte Schwester Sahar (Haita Izam) verkaufte...

"Capernaum" heißt im arabischen "Hölle" oder "Chaos". Die Inhaltsangabe klingt zunächst mal nach eher anstrengendem Arthaus- oder Independent-Kino mit erhobenem Zeigefinger. "Capernaum" ist aber zum Glück sehr weit davon entfernt. Zwar wirken die Szenen vor Gericht vor allem anfangs ein wenig sperrig und behindern im Verlaufe des Films den Erzählfluss der Rückblenden eher als dass sie ihn bereichern, allerdings sind diese Szenen in Summe doch sehr überschaubar, fügen sich gegen Ende immer besser in den Erzählfluss ein und münden letztendlich in einem wichtigen Statement, bei dem der Zeigefinger ausnahmsweise mal nicht in die übliche Richtung deutet. Der Gerichtsprozess ist erzählerische Nebensache, wenn auch ein kreatives und starkes Symbol. Regisseurin Nadine Labaki und ihr Team arbeiteten insgesamt mehr als sechs Jahre an dem Film. Allein vier entfielen auf Recherchen unter Kindern aus den Armenvierteln und Slums von Beirut, viele von ihnen Straßenkinder und manche auch aus syrischen Flüchtlingsfamilien stammend. Labaki erfuhr aus ihrem Mund von extremen Fällen der Vernachlässigung und des Missbrauchs. Die letzte Frage, die sie an die Kinder richtete, war stets: "Bist du glücklich, hier zu sein; bist du glücklich, am Leben zu sein?" Fast ausnahmslos antworteten sie mit "Nein".

Liest man das, treibt es einem, wenn man nicht völlig empathielos ist, schon beim Lesen dieser Zeilen die Tränen in die Augen. Der Film ist eine cineastische Tour de Force über das Leid eines Kindes, das nie eine Chance hatte, sich aber erstaunlich "gut schlägt". Und immer wieder wird erkennbar, dass die Regisseurin trotz der traurigen Geschichte versucht eine Prise Humor aus kleinen Alltagssituationen zu erwecken, um den Zuschauer nicht zu stark zu deprimieren. Die große Stärke des Films liegt auch nicht darin, beim Zuschauer alle paar Sekunden auf die Tränenndrüse zu drücken (obwohl das nur selten ausbleibt), sondern vor allem darin, wie dicht und atmosphärisch er den Überlebenskampf von Zain und einigen anderen Menschen in der von Armut und Kriminalität gezeichneten Stadt Beirut einfängt. Die beeindruckend großen Bilder und langen Kamerafahrten, die Settings, die durch die Bank hervorragenden Leistungen der Darsteller - das alles ist richtig großes Kino, von den später folgenden, drehtechnisch sicherlich auch sehr fordernden Aufnahmen mit Zain und einem Kleinkind mal ganz abgesehen - spätestens hier muss man schon das ein oder andere Mal schlucken, ohne dass der Film da extra auf die Tränendrüse drücken muss. Die daraus entstehende Beklemmung wird in "Capernaum" immer mehr verdichtet, je länger der Film anhält; am Ende wird fast eine Dokumentation daraus, in der Zain mit aller Kraft versucht sich und ein Baby am Leben zu erhalten. Spätestens hier möchte man - bereits mit einem Kloß im Hals - ihn und das Baby liebevoll in den Arm nehmen, beide fest an sich drücken und ihnen sagen, dass alles gut wird.

Fast alle Schauspieler, die in dem Film mitwirken, sind Laien. Manche spielen sogar mehr oder weniger sich selbst - allen voran der Hauptdarsteller Zain. Als Achtjähriger war er mit seinen Eltern und drei Geschwistern aus Syrien in den Libanon gekommen; statt eine Schule zu besuchen, trug er durch Botenjobs zum Familienunterhalt bei. Die "ruppige Körpersprache", ein Wesensmerkmal seines Charakters, brachte er mit. "Zain ist Zain" - und heißt darum im Film genauso wie im wirklichen Leben - "was man sieht, ist, was er ist. Das ist kein Schauspiel!" Labaki ließ ihn daher vieles improvisieren. Ohnehin war das Zusammenspiel zwischen ihm, einem Zwölfjährigen, und dem ihm anvertrauten Kleinkind etwas, was nicht "inszeniert", sondern nur entwickelt werden konnte. Das trug mit dazu bei, dass die Dreharbeiten sechs Monate in Anspruch nahmen. Auch entschied man, bei Außenaufnahmen keine Straßen zu sperren - in einem Teil Beiruts, der selbst für den libanesischen Kameramann Christopher Aoun "wie eine ganz neue Welt" war, eine Art "versteckte Stadt, eine Unterwelt". Dort, wo die Filmcrew neu auftauchte, wurde das mitunter gefährlich; wo sie schon bekannt waren, kam es mit der Zeit dazu, dass Anwohner mitspielten. Verzögerungen entstanden auch dadurch, dass das, was der Film zeigte, so oder ähnlich im wirklichen Leben der Beteiligten geschah.

Über weite Strecken ist "Capernaum" nüchtern erzählt und vermeidet selbst in dramatischen Momenten das große (inszenierte) Drama, sieht man einmal von wenigen Momenten wie dem Schluss ab. Es ist defintiv kein Feel-Good Movie, aber starkes Kino und zum Glück auch nicht ganz ohne Hoffnung. Hier kann keiner unberührt beliben. Die Tränen fließen beim Zuschauer wegen der Ungerechtigkeit, wegen dem Elend, das viele Menschen und auch Kinder heutzutage erleben müssen, wegen den Worten, die aus dem Mund eines kleinen Jungen herauskommen, wegen dem rührenden Ende an sich.

9/10

Quellen
Inhaltsangabe: Alamonde Film
Textauszüge: Wikipedia

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