Samstag, 10. Dezember 2022

Guillermo Del Toro's Pinocchio - Guillermo Del Toros Pinocchio (2022)

https://www.imdb.com/title/tt1488589/

Pinocchio (Stimme im Original: Gregory Mann) wird im Italien der 1930er-Jahre von dem Tischler Gepetto (David Bradley) erschaffen, während um sie herum der Faschismus erstarkt. Auf wundersame Weise erwacht der hölzerne Junge zum Leben. Für Gepetto eine wahre Offenbarung und Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches. Doch Pinocchio ist nicht der folgsame Ersatzsohn, den sich sein „Vater“ gewünscht hat. Während der alte Mann um Verstand, Sorgsamkeit und Folgsamkeit bittet, hat der lebenslustige Junge nur Flausen im Kopf. Die Erwartungen und Wünsche seines Vaters schiebt Pinocchio beiseite. Erst als die Situation eine unerwartete Wendung nimmt, erkennt er, dass er möglicherweise zu weit gegangen ist.

Guillermo Del Toros düstere Neuverfilmung der beliebten Geschichte "Pinocchio" in Form eines animierten Stop-Motion-Filmes ist nicht einfach nur eine weitere Version der bekannten Geschichte um eine Puppe, die von einer Fee zum Leben erweckt wird und ein richtiger Junge werden will. Ganz weit weg von den üblichen Zuckerguss-Disney-Produktionen ist das voll und ganz del Toros, und in seiner freien Kreativität auch allemal eine unterstützenswerte, Produktion, die Kindern und Erwachsenen etwas zu sagen hat. Wie schon in "Pans Labyrinth" und "The Shape Of Water" kombiniert Del Toro Realhistorisches meisterhaft mit der Metaphernwelt des Horrorkinos. Dass del Toros "Pinocchio" durch die Verortung im kriegsgebeutelten faschistischen Italien eine neue Ebene dazugewinnt und dadurch relevant ist, ist eine völlig neue Perspektive. Das Ergebnis ist erneut eine Hymne an die Macht der Ohnmächtigen. Die popkulturelle Dominanz von Disneys "Pinocchio" aus dem Jahr 1940, selbst eine entwaffnend düstere Geschichte, die Generationen von Kindern traumatisiert hat, hat das Erbe von Carlo Collodis ursprünglichem Kinderroman "Die Abenteuer des Pinocchio" aus dem Jahr 1883 verdrängt. Doch Collodis düsteres Moralstück war ein bahnbrechendes Stück Literatur, das eine skurrile Fabel mit sozialrealistischer Kunst verband - eine viel tiefgründigere und grausamere Saga als die Geschichte eines Holzjungen, dessen Nase einfach wächst, wenn er eine Lüge erzählt. Es sind die Themen von Collodis Roman, die Guillermo del Toro aufgreift und weiterführt, aber in klassischer Manier verwandelt der Regisseur von Nightmare Alley und Pan's Labyrinth Pinocchio in etwas weitaus Fremderes, Schärferes und Besseres. 

Del Toros "Pinocchio" beginnt mit einem Mann und seinem geliebten Sohn, aber nicht mit denen, für die man sie hält. Gepetto (David Bradley) ist der angesehene Holzschnitzer in einer kleinen Stadt im Italien der 1930er Jahre. Gepetto, der das erste der bezaubernden Lieder des Films als Widmung an seinen Sohn singt, liebt den 10-jährigen Carlo, der in jeder Hinsicht der perfekte Sohn ist. Doch eine verirrte Bombe tötet Carlo und stürzt Gepetto in eine alkoholbedingte Depression. Als ihn in einer regnerischen Nacht beim Besuch des Grabes seines Sohnes eine besonders starke Welle der Trauer überkommt, fällte Gepetto den Baum, der aus dem Tannenzapfen seines Sohnes und seinen eigenen Tränen gewachsen war, und schnitzte ihn zu einer Holzpuppe. Er ahnt nicht, dass ein freundlicher Waldgeist (Tilda Swinton, ätherisch wie immer) die Puppe in der Nacht besucht, um ihr Leben zu schenken, und dass die mürrische Grille (Ewan McGregor, urkomisch blumig), die im Baum lebt, den Auftrag hat, das Gewissen der Puppe zu sein. Als er erwacht, ist er schockiert, eine energiegeladene Puppe vorzufinden, die vor Neugier und Lebenslust strotzt - und vor dem oft unangebrachten Wunsch, es ihrem Vater recht zu machen. So beginnt eine Geschichte, die vielen Zuschauern bereits in Ansätzen vertraut ist, aber Del Toros "Pinocchio" führt den Zuschauer fast sofort auf einen verworreneren und knorrigen Pfad. Wo Disney Collodis ursprüngliche Geschichte zu einem gesunden Märchen über gute Söhne und ideale Väter abschleifen würde, schärft und verfeinert Del Toro "Pinocchio" zu einer Geschichte, die Ungehorsam als Sinnbild für freien Willen und Rebellion begreift. Dieser Pinnochio ist tief in das faschistische Italien der 1930er Jahre eingebettet, wo der Anführer von Gepetto's Dorf ein faschistischer Regierungsbeamter (Ron Perlman, dröhnend und furchterregend) ist, der von Pinocchio's unnatürlicher Existenz angewidert ist, bevor er schadenfroh feststellt, dass die Unsterblichkeit der Puppe ihn zum perfekten Soldaten macht. Dieser Pinocchio führt uns in ein Leben nach dem Tod, das von pokerspielenden Kaninchenbestattern und dem Tod selbst (ebenfalls von Tilda Swinton gesprochen) bevölkert wird. Und dies ist ein Pinocchio, der die düsterste Nebenhandlung des Disney-Films - die Verwandlung in einen Esel - für etwas noch Beunruhigenderes weglässt: Kinder, die fröhlich in den Krieg geschickt werden.

Collodis Original von Pinocchios Abenteuern mag eine Geschichte darüber gewesen sein, wie die Gesellschaft selbst die besten Absichten korrumpieren kann, aber es war immer noch eine, die strenge gesellschaftliche Normen aufrechterhielt: Das Gesetz ist gut und gerecht, Verbrechen ist böse und zersetzend, und alle Autoritätspersonen sind moralisch aufrecht. Im Gegensatz dazu präsentiert Del Toros Film eine radikale Idee für einen Kinderfilm: Autorität kann falsch sein. Die Autoritätspersonen, vor denen Gepetto und die anderen Dorfbewohner kuschen, können sogar noch falscher und bösartiger sein als der Zirkusdirektor (Christoph Waltz, ganz der finstere Widerling), der Pinocchio als Star seiner Show anlockt, nur um seine Arbeiter zu misshandeln und faschistische Propagandaschauen zu veranstalten. Und bei all dem bleibt Pinocchio (ein leuchtender Gregory Mann) ein Leuchtturm der Begeisterung und Hoffnung, auch wenn seine impulsiven, selbstsüchtigen Entscheidungen Gepetto schaden oder seine (bildlichen) Fäden von hinterhältigen Gestalten in alle Richtungen gezogen werden.

Del Toros Co-Autor Patrick McHale bringt einen unheimlichen Surrealismus in "Pinocchio" ein. Gemeinsam verwandeln sie dieses klassische Märchen in ein fast dadaistisches Kunstwerk mit komisch absurden Elementen, die stets von der Dunkelheit umspielt werden, die daran erinnert - sogar bedroht -, dass die Schrecken der Realität diese Fabel leicht einholen können. Doch trotz des düsteren Hintergrunds und der düsteren Themen, mit denen sich "Pinocchio" auseinandersetzt, trotz der Gewalt und der Entbehrungen, die Pinocchio erlebt, verliert der Film - und sein unnachgiebiger Protagonist - nie seine Lebensfreude. Viele dieser Lichtblicke finden sich in den schönen Liedern von "Pinocchio", die von Alexandre Desplat komponiert und teilweise von del Toro geschrieben wurden. Die Lieder wirken eher wie alte Volkslieder, was zu Pinocchios ernsthaftem Zugang zum Märchen passt. Ein paar weitere Lichtblicke sind die süßen Momente zwischen Gepetto, Pinocchio und Sebastian J. Cricket und die ehrliche Darstellung des Kummers eines Vaters. Aber der helle Leuchtturm, um den sich Pinocchio dreht, ist die Titelfigur, die von Mann mit arglosem Elan gesprochen wird und deren liebenswertes Charakterdesign - mit schlaksigen Gliedern, nervösen Bewegungen und Nägeln, die aus dem Gesicht ragen - gerade mal so gut wie baufällig ist.

Die Animation von "Pinocchio" ist spektakulär. Es sind keine klaren Linien zu sehen. Die Figuren sind alle knorrig, voller Falten, rotgesichtig oder hager. Jedes Detail, von den Kulissen über die Architektur bis hin zu den Bäumen, biegt und krümmt sich organisch. Del Toro hatte schon immer ein Auge für die ätherische Fantasie, und die unheimlichsten Elemente von "Pinocchio" enttäuschen nicht: Der leuchtende Waldgeist und seine dunkle Schwester, der Tod, sind eher eine gruselige Phantasmagorie als knuddelige Kinderfantasy-Sidekicks. Die Stop-Motion-Technik verleiht dem Film einen Hauch von Unwirklichkeit - Pinocchio bewegt sich manchmal mit einer erschreckenden, ruckartigen, unmenschlichen Geschwindigkeit. Es ist eine Welt, die Unvollkommenheit umarmt und keinen Platz für die glänzende Glätte der zeitgenössischen CG-Animation lässt. Dieser "Pinocchio" sieht völlig einzigartig aus und fühlt sich auch so an. Es ist aber hier wie bei allen Filmen, die mit Animation, egal in welcher Form, arbeiten, ein Fall von "hit or miss". Entweder, man findet einen Zugang zu dem gewählten Stil und lässt sich darauf ein, oder man findet eben keinen und fragt sich, was das ganze soll. Del Toro hat "Pinocchio" als den dritten Film seiner inoffiziellen "Kindheit und Krieg"-Trilogie mit "The Devil's Backbone" und "Pans Labyrinth" bezeichnet. Und er fühlt sich ernsthaft mit diesen beiden Filmen verbunden, die beide viel düsterer und trostloser sind als "Pinocchio". Aber trotz seines hoffnungsvolleren Ansatzes ist "Pinocchio" nicht weniger heftig - er hämmert seine Botschaften über Faschismus und Revolution mit all der Subtilität einer Nase ein, die mit jeder Lüge wächst. Aber in einem Film, der so atemberaubend schön und so eindringlich wütend ist, braucht man keine Subtilität. Del Toros düstere Neuinterpretation der bekannten Geschichte verbindet Kriegsschrecken, Märchen und Coming-of-Age-Elemente zu einem wunderbaren Abenteuer, das gerade durch die zahlreichen Details so wundervoll ist und vollständig begeistert.

9/10

Quellen
Inhaltsangabe: Netflix

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