Für das Episoden-Projekt "Tokyo!" steuern die drei beteiligten Regisseure Michel Gondry, Leos Carax und Joon-ho Bong jeweils einen Kurzfilm bei, die alle in der japanischen Hauptstadt spielen und von Außenseitern handeln.
"Interior Design" unter der Regie von Michel Gondry handelt um eine Adaption des Kurzgeschichtencomics "Cecil und Jordan in New York" von Gabrielle Bell. Hiroko (Ayako Fujitani) und Akira (Ryō Kase) sind ein junges Paar aus der Provinz, das mit begrenzten Mitteln und einer kurzfristigen Unterkunft in Tokio lebt. Sie scheinen eine solide und sich gegenseitig unterstützende Beziehung zu haben, die sie scheinbar durch jede Herausforderung tragen wird. Akira ist ein aufstrebender Filmemacher, dessen Debütfilm bald in der Stadt zu sehen sein wird und hoffentlich zu einer solideren Karriere führt; in der Zwischenzeit arbeitet er in einem örtlichen Kaufhaus als Geschenkverpacker. Dem Paar gelingt es, für kurze Zeit in einer beengten Studiowohnung einer Freundin, Akemi (Ayumi Ito), unterzukommen. Akemis Freund wird der Hausgäste überdrüssig, so dass Hiroko sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung macht. Hiroko findet nur eine ungeeignete Wohnung, die weder sie noch Akira sich leisten können. Nachdem Akiras Film mit zweifelhaftem Erfolg in die Kinos gekommen ist, weist ein Zuschauer Hiroko auf die Schwierigkeiten hin, die Beziehungen zwischen Kreativen innewohnen: Eine Hälfte des Paares fühlt sich unsichtbar, nutzlos oder nicht gewürdigt. Hiroko kann diese Gefühle nach ihren zahlreichen Irrungen und Wirrungen in der fremden Stadt Tokio nur zu gut nachvollziehen und beginnt, ihre Rolle in der Beziehung zu hinterfragen. Eines Morgens wacht Hiroko auf und sieht ein kleines Loch, durch das Licht in sie eindringt. Als sie ins Bad geht und ihr Hemd aufknöpft, sieht sie zu ihrem Entsetzen ein handgroßes Loch in ihrer Brust, in dessen Mitte ein Holzstab steckt. Als sie die Straße hinuntergeht, wird das Loch immer größer und sie stolpert, während sich ihre beiden Füße in Holzstangen verwandeln. Schließlich wird Hiroko in einen Stuhl verwandelt, an dessen Lehne nur noch ihre Jacke hängt. Die Menschen, die an ihr vorbeigehen, bemerken die Anwesenheit des Stuhls nicht.
In "Shaking Tokyo", unter der Regie von Bong Joon-ho, spielt Teruyuki Kagawa einen Tokioter Eingeschlossenen oder Hikikomori (japanisch:引きこもり), der seine Wohnung seit einem Jahrzehnt nicht mehr verlassen hat. Seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist sein Telefon, mit dem er Lieferdienste in Anspruch nimmt, wie z. B. die Pizza, die er jeden Samstag bestellt, so dass sich in seinem Zimmer Hunderte von Pizzakartons stapeln. Eines Tages wird seine Pizza von einer hübschen jungen Frau (Yū Aoi) geliefert, der es gelingt, die Aufmerksamkeit des Eingeschlossenen auf sich zu ziehen. Plötzlich wird Tokio von einem Erdbeben erschüttert, woraufhin die Pizzalieferantin in der Wohnung des Hikikomori in Ohnmacht fällt und er sich hoffnungslos in sie verliebt. Die Zeit vergeht, und der Eingeschlossene erfährt durch einen anderen Pizzalieferanten, dass das unwahrscheinliche Objekt seiner Zuneigung selbst ein Hikikomori geworden ist. Mit einem kühnen Sprung ins Ungewisse überschreitet er die Schwelle seiner Wohnung und begibt sich auf die Suche nach dem Mädchen, das er schließlich genau in dem Moment entdeckt, als ein weiteres Erdbeben auftritt.
Es ist ein schmerzhaftes, aber reales Phänomen, dass die tatsächliche Interaktion von Angesicht zu Angesicht zwischen Menschen in einer Megastadt wie Tokio so schwierig und unmöglich erscheinen kann. Tausende Gesichter jeden Tag, die man Sekunden darauf vergisst und womöglich nie wieder sehen wird. Tausende herumwuselnde Wesen, die den großen Ameisenbau der Metropole aufrecht erhalten. Die Furcht vor sozialer Interaktion und Kommunikation ist ein Motiv, dem sich alle drei in Tokio! gezeigten Kurzfilme mit ganz unterschiedlichen Ansätzen widmen und das man so wohl auf viele Großstädte übertragen könnte. Insofern lässt sich der Anthologie-Film durchaus auch Menschen ans Herz legen, die mit Japan nicht ganz so viel anfangen können.
Schlussendlich fasziniert die Vielseitigkeit und der Ideenreichtum, mit dem alle drei Segmente aufwarten können. Mal mehr, mal weniger gut gelungen, ist die Anthologie ein buntes Potpourri mit innovativen Ansätzen und massig Mut. Trotz dessen, dass der zweite Film leider nicht ganz überzeugt, mag man das dem Gesamtwerk, ob der Absurdität und der Skurrilität vieler kleiner Momente gerne verzeihen. Insgesamt bietet Tokio! einen kunstvoll abstrahierten, aber dennoch intimen und persönlichen Einblick in das Wesen der japanischen Metropole, fernab von Anime-Mädchen und Kirschblüten.
7,5/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Koch Films
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