Samstag, 7. Januar 2023

The Pale Blue Eye - Der denkwürdige Fall des Mr Poe (2022)

https://www.imdb.com/title/tt14138650/

An der West Point Academy im Jahr 1830 wird die Ruhe eines Oktoberabends durch die Entdeckung der Leiche eines jungen Kadetten gestört, der an einem Seil in der Nähe des Paradeplatzes baumelt. Ein offensichtlicher Selbstmord ist in einem strengen Regime wie dem von West Point nichts Ungewöhnliches, aber am nächsten Morgen kommt ein noch größerer Schrecken ans Licht. Jemand hat sich in den Raum gestohlen, in dem die Leiche lag, und das Herz entfernt. Daraufhin wird der erfahrene Ermittler Augustus Landor (Christian Bale) herangezogen. Obwohl dieser sich bereits in den Ruhestand begeben hat, übernimmt er den Fall. An der Militärakademie begegnet er auch bald einem jungen Kadetten namens Edgar Allan Poe (Harry Melling), der nicht nur großes Interesse an Landors Ermittlungsmethoden an den Tag legt, sondern auch eine ausgeprägte Faszination für das Morbide mit sich bringt. 

Die kargen Bäume und verschneiten Hügel des winterlichen Hudson Valley haben selten so bedrohlich gewirkt wie in Scott Coopers "Der denkwürdige Fall des Mr Poe", einem Krimi, bei dem es mehr um die Stimmung als um den Einfallsreichtum geht. Aber die visualisierte Kälte, die man beinahe in den Knochen spüren kann, steigert die Spannung sogar noch - Cooper weiß eben ganz genau, dass Krimis von ihrer Atmosphäre leben oder sterben. Diejenigen, denen Sherlock Holmes als Einstiegsdroge in die ernsthafte Literatur diente, können das bezeugen: Die viktorianische Atmosphäre, das Kopfsteinpflaster und das Licht der Gaslaternen sind für die Faszination des Zuschauers oftmals ebenso wichtig wie die Fälle selbst, vielleicht sogar noch wichtiger. "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" ist nun ein angemessen dickes, nebliges Gegenstück zu diesen Geschichten, das in West Point in den 1830er Jahren spielt und es in sich hat.

Basierend auf dem Roman von Louis Bayard aus dem Jahr 2003 folgt "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" dem altgedienten New Yorker Detektiv Augustus Landor (Christian Bale), der allein in den Wäldern lebt und aus dem Ruhestand geholt wird, um den grausigen Tod eines Kadetten an der Militärakademie West Pont zu untersuchen. Ein Kadett, Leroy Fry (Matt Helm), wurde erhängt aufgefunden. Sein Herz wurde jedoch aus seinem Körper entfernt, als er in der Leichenhalle lag. Die leitenden Offiziere der Akademie möchten, dass Landor herausfindet, wer dies getan hat und warum. Bei der Untersuchung des Leichnams findet Landor ein kleines Fragment eines Zettels, das der tote Kadett fest in der Hand hält. Außerdem deuten Spuren an Frys Hals und Fingern darauf hin, dass er sich nicht selbst erhängt hat, sondern ermordet wurde. Mit Erlaubnis der Offiziere nimmt Landor die Hilfe von Edgar Allan Poe (Harry Melling) in Anspruch, einem anderen Kadetten an der Akademie, der sich für den Fall interessiert hat. Poe und Landor schließen aus der Schrift auf dem Zettelfragment, dass Fry damit zu einem geheimen Treffen eingeladen wurde. Nachdem in der Gegend eine Kuh und ein Schaf gefunden werden, die geschlachtet und denen die Herzen entfernt wurden, kommt man zu dem Schluss, dass der Mord mit schwarzmagischen Ritualen zu tun haben könnte. "Das Herz ist ein Symbol, sonst ist es nichts", erklärt Poe. "Das Herz eines Menschen zu entfernen, bedeutet, mit Symbolen zu handeln. Und wer wäre für eine solche Arbeit besser geeignet als ein Dichter?"

Tiefgründig. Poe fasziniert Landor, der anfängt, diesen jungen, seltsamen Kerl mit Zuneigung zu betrachten. Bale war so lange so gut darin, distanzierte Charaktere zu spielen, dass es erfrischend ist, zu sehen, wie sich in seinem Blick Wärme für einen anderen entwickelt. Landor hat seine Frau durch eine Krankheit verloren, und seine Tochter, so erfährt man, ist vor kurzem von zu Hause weggelaufen; er kam in diese Wälder, um das Glück mit seiner Familie zu finden, und endete allein und verbittert. Als Poe das Haus von Landor besucht und Bücher bewundert, die eindeutig seiner Tochter gehörten, beginnt man zu verstehen, warum der ältere Mann diesem Außenseiter unter den Dichterkadetten gegenüber weich geworden ist: Der junge Mann erinnert ihn an seine verlorene Tochter. Und Poe, der sagt, dass er manchmal mit seiner toten Mutter spricht, könnte auch etwas väterliche Zuwendung gebrauchen. Diese Vater-Sohn-Dynamik treibt die ganze Story an und sorgt für mehrere Schlüsselmomente auf dem Höhepunkt des Films. Das wiederum verlangt Melling einiges ab, und man weiß nie so recht, worauf er mit seinem wunderbaren Poe hinaus will. Mit seinen großen Augen, die ein Gesicht dominieren, das ansonsten nur aus Wangenknochen und Kinn besteht, verleiht er diesem Außenseiter eine feige, gespenstische Zuversicht. Er wechselt zwischen Anflügen von Traurigkeit und Grandiosität, dem Markenzeichen eines echten Romantikers. Man spürt die Tragödie, dass er an einem Ort wie West Point gelandet ist. (Im wirklichen Leben hielt es Poe nur ein paar Monate an der Schule aus.) Man spürt auch in seinem Auftreten und seiner Sprache, dass dieser Mann entweder der Welt seinen Stempel aufdrücken oder tot in einem Graben enden wird.

Auf der rein erzählerischen Ebene bietet "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" relativ standardmäßige Entwicklungen: eine versteckte Notiz hier, eine unbemerkte Wunde dort, ein verschlüsseltes Tagebuch dort. Aber wir haben es hier mit einem grundsätzlich gemütlichen Genre zu tun, und Vertrautheit ist erlaubt und erwünscht. Außerdem weiß Cooper, dass Klischees, die selbstbewusst eingesetzt werden, ihre Wirkung entfalten können. Also lehnt er sich an sie an. Eine Figur, die dem Untergang geweiht ist, hustet nicht nur am Anfang - sie hat einen richtigen Anfall. Die Exposition wird mit schauspielerischer Souveränität vorgetragen. Es hilft, dass die Nebenrollen mit Darstellern besetzt sind, die schon ganze Filme getragen haben: Timothy Spall spielt den Leiter von West Point; Toby Jones spielt den Schularzt; Gillian Anderson spielt die emotional zerbrechliche Frau des Arztes; Charlotte Gainsbourg spielt eine Bardame. Robert Duvall spielt einen Professor für Okkultismus.  Die Filmmusik komponierte der dreifache Oscar-Preisträger Howard Shore und diese passt hervorragend in das Bild, das Kameramann Masanobu Takayanagi einfängt.

Letztendlich ist das alles ziemlich fesselnd, nicht nur wegen Bale und Melling und der berauschenden Atmosphäre, sondern weil die Verbrechen, die untersucht werden, auf einer geradezu existenziellen Ebene grausam sind. Die Morde sind auf eine morbide Art faszinierend genug, um den Zuschauer von Anfang an zu fesseln, und Cooper sorgt dafür, dass man sich mit den teigigen, geschwollenen Leichen, den grotesken, geronnenen Wunden und den in Leichenstarre erstarrten Fingern, die auf den Autopsietischen geknackt werden, beschäftigen. Dies stellt den Film vor die Herausforderung, eine Lösung zu finden, die nicht nur Sinn ergibt, sondern auch die fesselnde Grausamkeit der begangenen Verbrechen würdigt. Und erstaunlicherweise ist das Finale des Films ein echt toller Twist - völlig unerwartet, aber durch den geschickten Einsatz von Informationen gekonnt verkauft. Im Gegensatz zu vielen Krimis, die so konzipiert sind, dass sie für das Publikum unlösbar sind, zeigt "Der denkwürdige Fall des Mr Poe" alles, was man benötigt, um das Rätsel zu lüften, und schafft es dennoch, den Ermittlern vor dem Bildschirm die lange Nase zu zeigen. Dennoch bleiben die überraschend bewegende zentrale Beziehung und die lebendige Kulisse des Films im Gedächtnis haften.

8/10

Quellen
Inhaltsangabe: Netflix

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