Rory (Jude Law), ein ehrgeiziger Unternehmer und ehemaliger Rohstoffmakler, überredet seine amerikanische Frau Allison (Carrie Coon) und seine Kinder, die Annehmlichkeiten der amerikanischen Vorstadt zu verlassen und in den 1980er Jahren in sein Heimatland England zurückzukehren. Rory wittert eine Gelegenheit und pachtet ein jahrhundertealtes Landgut mit Grundstücken für Allisons Pferde und Plänen zum Bau eines Stalls. Bald beginnt sich das Versprechen eines lukrativen Neuanfangs im englischen Herrenhaus aufzulösen und das Paar muss sich den unwillkommenen Wahrheiten stellen, die unter der Oberfläche seiner Ehe liegen. Die unheimliche Isolation, in der sich Rorys Familie im neuen Haus befindet, tut ihr Übriges, die Mitglieder voneinander zu entfernen. Ein Kreislauf der Selbstzerstörung beginnt...
"The Nest" von Autor/Regisseur Sean Durkin beleuchtet das Leben der Familie O'Hara und stellt von Anfang an die Frage, ob es überhaupt Hoffnung für sie gibt. Ist es eine Parabel über familiäre Dysfunktion?
Oder vielleicht ein Fiebertraum über die unruhige Geburt des
Neoliberalismus in den 80er Jahren unter Thatcher und Reagan und die
besondere Beziehung zwischen Gier und Gut? Dieses erschütterndes, wunderschöne Drama
über ein Ehepaar, das aus dem Bundesstaat New York in ein altes, zugigen
Anwesen in der Nähe von London umzieht, wo sich ihre Verbindung
auflöst., beantwortet diese Frage nicht. Doch eines wird dem Zuschauer schnell klar: die Ehe von Rory (Jude Law) und Allison (Carrie Coon)
war bereits zerrüttet. Aber die Eheleute waren so sehr mit den Routinen
der Familie beschäftigt und so sehr in ihre eigenen Betätigungen vertieft (er ist Investmentbanker, sie züchtet Pferde und gibt
Reitunterricht), dass sie die Warnzeichen nicht bemerkten. Ihr Umzug
nach England, wo Rory aufgewachsen ist, ist wie ein Schwarzlicht, das
auf einen Tatort gerichtet ist: Es ist beinahe unmöglich, nicht zu sehen, was
alles schief gelaufen ist.
Ihre Kinder sehen es auch. Die augenrollende Unzufriedenheit der älteren Tochter Sam (Oona Roche), die von Allisons erstem Ehemann gezeugt wurde, verwandelt sich nach dem Umzug nach England langsam in unverhohlenen Zynismus, Feindseligkeit und Rebellion. Roches Blick mit den schmalen Augen, wenn ihre Eltern sich auf ein besonderes Plädoyer einlassen, ist eines der erschütterndsten Bilder des Films: ihr Gesicht ist das Urteil. Rorys und Allisons Jüngster, der süße und sensible Ben (Charlie Shotwell), zieht sich in sich selbst zurück, und man beginnt, um seine körperliche Unversehrtheit zu fürchten. Durkin schafft mit seinem "The Nest" das filmische Äquivalent zu jenen gehaltvollen, langen, aber nicht zu langen Kurzgeschichten, die alles über ihr Thema aussagen, ohne wirklich alles zu sagen. Sein Drehbuch und seine Regie sind ebenso sparsam und genau wie mitfühlend und gnadenlos. Er fühlt mit diesen Figuren, ohne sich dem Publikum anzubiedern, indem er ständig ihre Liebenswürdigkeit proklamiert. Die Kameraführung, der Schnitt und die Filmmusik (von Richard Reed Parry von Arcade Fire) sind wie aus einem Guss. Da gibt es nichts auszusetzen.
So niederschmetternd "The Nest" auch oft ist, die schiere Schönheit der einzelnen Momente ist immer noch begeisternd. Und diese Schönheit liegt in der Einfachheit und Richtigkeit dessen, worauf sich die einzelnen Momente konzentrieren, ob es nun die Geräusche von Rorys ängstlichem Atmen und das Klacken seiner Schuhe auf einer Schotterstraße sind, wenn er im Morgengrauen in der Silhouette nach Hause läuft, nachdem er die ganze Nacht in der Stadt verbracht hat; oder die sich einschleichenden Zoomaufnahmen, die den Eindruck erwecken, dass eine unsichtbare, eiskalte Intelligenz die Familie überwacht; oder die Totale der betrunkenen, rebellischen Allison, die allein unter Fremden in einem Nachtclub tanzt; oder die Totale von Ben, der sich in einem überfüllten Zimmer versteckt, um der unerlaubten, dekadenten Party seiner Schwester zu entkommen; oder alles, was mit Allison und ihren geliebten Pferden zu tun hat. Jude Law (der den Film mitproduziert und gefördert hat) gibt eine seiner besten Leistungen als Rory. Dieser ist in der Arbeiterklasse aufgewachsen und kann sein Aussehen und sein Charisma gut einsetzen, um alles mögliche zu verkaufen; aber er ist schlecht im Detail, und er ist so besessen davon, wohlhabend zu erscheinen, dass er die mathematischen Fakten, was die Dinge kosten, vernachlässigt und seine Frau und Kinder in unüberlegte Glücksspiele verwickelt. Etwas, was sehr vielen Menschen geschieht, wenn sie nur eine äusserliche Fassade wahren wollen, die nur dazu dient, den Neid anderer hervorzurufen. Carrie Coon ist Law ebenbürtig und übertrifft ihn sogar in mancher Hinsicht. Es ist die insgesamt beeindruckendere Leistung, weil sie vergleichsweise neu ist. Als Allison zeigt sie eine ebenso geerdete, nervöse, verletzliche und technisch einwandfreie Leistung wie jede andere, die wir von etablierteren Schauspielerinnen gesehen haben, und das in einer anderen Art und Weise als in den Rollen, die sie auf das Radar von Kritikern und Zuschauern gebracht haben.
Coon hat vier, vielleicht fünf Szenen in "The Nest", in denen ihre Arbeit so konzentriert und einfach ist (im Sinne von direkt und schnörkellos, nicht grob oder vereinfachend), dass sie für den gesamten Film stehen könnten. Am schönsten ist eine Dinnerszene gegen Ende des Films. Rory hat Allison überredet und genötigt, ihn zu begleiten, als er und ein Kollege, Steve (eine starke und berührende Nebenrolle von Adeel Akhtar), ihnen helfen, Kunden zu gewinnen, die ihnen viel Geld bringen könnten. Rory, der zu diesem Zeitpunkt von finanzieller Instabilität und ehelicher Verzweiflung geplagt ist, gibt sich viel zu viel Mühe und verbeisst sich in seinem Bestreben. Er stellt sich selbst als Mann mit Kultur und Geschmack dar, der die feineren Dinge zu schätzen weiß, aber er wirkt wie ein Trottel, der sich als kultiviert ausgibt. Allison, die genug von seinen Wahnvorstellungen hat, kann nicht mehr mitspielen und lässt ihren brodelnden Groll auf Rory in bissigen Sprüchen heraus. Man erwartet hier eigentlich, dass es jeden Moment exkaliert, wie ein Dampfkochtopf, bei dem man gespannt auf den Pfiff wartet, der andeutet, dass das Wasser kocht. Es ist aber nicht nur die verschlossene Intensität der Figur oder das nervöse Zigarettenrauchen oder das federleichte blonde Haar, das den Vergleich nahelegt. Es ist die Art und Weise, wie Coon den Zuschauer nicht nur verstehen, sondern auch fühlen lässt, was Allison fühlt - und zwar nicht auf eine auffällige oder händchenhaltende Art und Weise, indem er auf den technischen Teil der Darbietung hinweist oder ihn unterstreicht oder die Aufmerksamkeit darauf lenkt, sondern scheinbar ohne jegliche Vorüberlegung, wie der Zuschauer irgendetwas wahrnehmen könnte - ja, ob überhaupt jemand zuschauen könnte. Man spürt Allison so, wie man die Gefühle eines engen Freundes spüren würde, wenn man mit ihm im selben Raum wäre. Allison ist schwer zu ertragen. Sie liebt ihre Kinder und scheint im Grunde ein anständiger Mensch zu sein. Aber sie verleugnet ihre eigenen materialistischen Neigungen. Und sie ist so sehr mit sich selbst und ihrer zerbrechenden, abhängigen Ehe beschäftigt, dass sie den Schmerz ihrer Kinder nicht wirklich so wahrnimmt, wie es eine Mutter tun sollte.Davon abgesehen ist sie aber eine weitaus bessere Mutter als Rory ein Vater ist.
"The Nest" mit einer Laufzeit von knapp 117 Minuten fühlt sich viel länger an. Und das ist positiv gemeint. Weil so viel passiert, weil jede Szene, jeder Moment, jede Zeile und jede Geste für so viele Dinge gleichzeitig steht und auf so vielen Ebenen gleichzeitig existiert, ohne eine große Sache daraus zu machen, wie viele Daten und Bedeutungen vermittelt werden. Und das Ergebnis gehört zu den besten martialischen Trennungsgeschichten des Kinos. Die Schlussszene - wie in so vielen perfekten Filmen über die Komplexität von Familienbeziehungen am Frühstückstisch angesiedelt - ist genau richtig. Sie endet mit einem Hauch von Möglichkeit, nicht von Gewissheit. So können Zuschauer für oder gegen die Möglichkeit (oder Zweckmäßigkeit) argumentieren, die Ehe zu reparieren oder das Scheitern zu akzeptieren und weiterziehen. Am Ende sind sich die Eltern, die Kinder und die Zuschauer über den Stand der Dinge einig. Die Erleichterung, die mit einer solchen Erkenntnis einhergeht, lässt eine Geschichte von eskalierendem Unbehagen auf einer Note von Hoffnung, oder besser Realismus, Akzeptanz, enden. In diesem Film drückt man niemandem die Daumen. Es ist nicht die Art von Film, die sich darum kümmert, ob man seine Figuren gutheißt - nur, dass man sie versteht.
8,5/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Ascot Elite
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