Die junge Cleo (Yalitza Aparicio) arbeitet in den 1970er Jahren als Hausmädchen für eine mexikanische Mittelstandsfamilie im Stadtteil Roma in Mexiko Stadt. Zusammen mit ihrer Kollegin und Freundin Adela (Nancy García) kümmert sie sich nicht nur ums Kochen und Putzen, sondern auch aufopferungsvoll um die drei Kinder des Haushalts. Als sich ihre Arbeitgeber Sofia (Marina de Tavira) und Antonio (Ernando Grediaga) trennen und letzterer zuhause auszieht, hilft sie Sofia, diesen Umstand vor den Kindern geheimzuhalten. Als sie selbst von ihrem Freund Fermín (Jorge Antonio Guerrero) schwanger wird, weist der die Verantwortung von sich und ergreift feige die Flucht. Für Sofia und Cleo keine einfache Situation. Dann kommt es in der Stadt nach politischen Studentenunruhen plötzlich zu einer heftigen Eskalation der Gewalt. Ein Demonstrant wird von Paramilitärs erschossen...
Regisseur Alfonso Cuaróns halbautobiografisches Erinnerungsstück über seine Kindheit in den 1970er Jahren in Mexiko, ist, ohne Umschweife, ein Meisterwerk. Vollständig gedreht in Schwarzweiß mit unbekanntenr Besetzung und sämtlichen Dialogen auf Spanisch, ist aber längst kein Indie-Film mehr, der er vielleicht aufgrund seiner Machart hätte sein sollen. Doch bei einem Kunstwerk kann es keine Kompromisse geben, außer wie oder wo man es betrachtet - und dies ist ein wahres Kunstwerk. Cuarón war der erste mexikanische Regisseur, der einen Oscar (für seinen großartigen "Gravity") gewann. Aber das sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass "Roma" Cuaróns Meisterwerk ist, sein Schrei aus tiefstem Herzen und ein bewegender neuer Meilenstein im persönlichen Filmemachen. Die Handlung ist, so wie sie ist, so sorgfältig ausgearbeitet, dass das Drehbuch bis zum Drehtag vor den Schauspielern, zumeist Laien, verborgen blieb. Der Regisseur wollte, dass das Publikum das Chaos des Lebens in "Roma", dem titelgebenden gehobenen Viertel von Mexiko-Stadt, in dem er aufgewachsen ist, spüren kann. Es mag seltsam erscheinen, dass ein Film, der auf Cuaróns prägenden Jahren basiert, so wenig von ihm und seinen drei Geschwistern enthält. Doch anstatt nach innen zu blicken, blickt der Filmemacher über die Besonderheiten seines Familienlebens hinaus in die weite Welt dahinter.
Auf den ersten Blick scheint die Mutter Sofia (Marina de Tavira) das Zentrum des Geschehens in diesem geschäftigen Haushalt der oberen Mittelschicht zu sein, wobei ein Hund und die notorisch schlechte Fahrweise der Matriarchin für leichte Erheiterung sorgen. Aber Sofia ist sichtlich abgelenkt von der ständigen Belästigung ihres Ehemanns (und Arztes) Antonio (Fernando Grediaga) und der Last, seine Untreue vor ihren Kindern geheim zu halten. Die Verantwortung für die Erziehung der Kinder liegt bei Cleo (der erhabenen, gefühlvollen Yalitza Aparicio), der Magd/Haushälterin/Köchin/Babysitterin/Friedensstifterin. Es ist diese Hausangestellte - eine schüchterne, stille Naturgewalt - die Cuarón in seinem Film ehrt, und ihr Mut und ihre Anmut sind ein Wunder. Aparicio, eine Vorschullehrerin mit Mixteco-Erbe, hat vor diesem Film noch nie gespielt, aber von ihrem Talent könnte sich so mancher Profi eine Scheibe abschneiden. Cleo ist das schlagende Herz in "Roma" und die Kamera, durch die der Filmemacher seine Erinnerungen an die Vergangenheit in eine turbulente Gegenwart projiziert, lässt Fragen nach Rasse, Klasse, Gewalt und der bedrängten Menschheit weiterhin nachhallen. Ausgehend von der Eröffnungsszene, in der Cleo die Auffahrt schrubbt und das schaumige Wasser einen über sie hinwegdonnerndes Flugzeug reflektiert, deutet der Film an, wie sich globale Ereignisse auf diesen nicht ganz so idyllischen Haushalt auswirken. Der Zuschauer beobachtet die Familienferien auf der Hacienda eines Freundes, wo die Gäste dem Soundtrack von "Jesus Christ Superstar" lauschen und ein waffenliebender Onkel eine kleine Schießerei organisiert. Später grollt die Natur, als am Silvesterabend ein Waldbrand ausbricht und Flammen den Nachthimmel erhellen. Erwachsene, Kinder, Hunde und Wildtiere kommen in Hülle und Fülle zum Vorschein, während die Gäste eine Eimerbrigade bilden, um den Brand zu löschen.
Im Gegensatz zur visuellen Großartigkeit dieser Szene gibt sich der Film Mühe, Cleo in ihrer Freizeit zu zeigen, wie sie ihre Dienerin Adela (Nancy Garcia) bei einer Verabredungsnacht in Mexiko-Stadt voller Leben begleitet. Unsere Heldin trifft sich mit Fermin (Jorge Antonio Guerrero), einem Kampfkunstexperten, der nach dem Liebesspiel nackt dasteht und mit einer Duschstange seine Fähigkeiten im Umgang mit Stäben unter Beweis stellt. Als Cleo verkündet, dass sie schwanger ist, vollführt er auch einen hübschen Akt des Verschwindens. Als sie den Verlierer bei einem militanten Outdoor-Trainingskurs aufspürt, stößt sie auf noch mehr Ablehnung. Entschlossen, ihr Baby zu bekommen, kauft Cleo ein Kinderbett, als auf den Straßen ein Aufstand ausbricht, als eine Gruppe mexikanischer Paramilitärs, bekannt als "Los Halcones", studentische Demonstranten erschießt. Der Regisseur inszeniert das berüchtigte Fronleichnamsmassaker aus einem Fenster im Obergeschoss des Möbelhauses mit einem ebenso atemberaubenden wie brutalen Schwung. Als ihr während des Handgemenges die Fruchtblase platzt, eilt Cleo ins Krankenhaus. Sie fühlt sich während einer schmerzhaften Geburt, die einem die Tränen in die Augen treiben könnte, sprübar verlassen.
Es gibt in "Roma" keinen Moment, in dem der Zuschauer nicht daran erinnert wird, dass Cuarón ein Weltklasse-Filmemacher ist, der sein Handwerk vollkommen beherrscht und in der Lage ist, einen Film zu schaffen, der sowohl von epischem Ausmaß als auch so intim wie ein Flüstern ist. Er drehte den Film sogar selbst, als sein Kameragenie, der Oscar-Preisträger Emmanuel Lubezki, nicht mehr verfügbar war. Die hinreißenden Bilder sind pures Staunen. Cuarón dreht einen Film über die Vergangenheit im hochaktuellen digitalen 65-Grad-Format und mit dem ausgefeiltesten Sounddesign, das man jemals hören kann. Damit schafft Cuarón eine Mischung aus damals und heute, die technische Wunder vollbringt. Er betrachtet die Ereignisse des Films mit durchdringender Klarheit, in langen Einstellungen, in denen sich die Charaktere durch sein umfassendes Bild bewegen. Doch seine Distanz sollte man nicht mit mangelndem Gefühl verwechseln. Wie der Film selbst bittet Cleo nie um Mitgefühl. Und trotzdem kommen dem Zuschauer, der schon längst so tief in ihre Welt eingetaucht ist, irgendwann unweigerlich die Tränen.
Cuaróns Hingabe an Cleo, die zweite Mutter, die er als Kind für selbstverständlich hielt, strahlt in jedem Bild aus - besonders während eines Höhepunktausflugs ans Meer, bei dem Sofia ihren Kindern erzählt, dass ihr Vater das Haus endgültig verlassen hat. Dieses Trauma wird noch schlimmer, als zwei der Kinder von der Flut mitgerissen werden und Cleo, selbst verängstigt, hinausschwimmt, um sie vor dem Ertrinken in der tosenden Brandung zu retten. Auf der Autofahrt nach Hause blickt sie aus dem Fenster, ihre Augen sind ein Spiegel dafür, wie sehr diese Familie ihr gehört und was nicht. Wenn der Mann hinter diesem Film die Frau, die ihn damals zum Helden erzogen hat, nicht gesehen hat, dann tut er es jetzt. Und indem er ihre Geschichte in den Kontext einer zerbrochenen Familie stellt, die in einer zerbrochenen Welt überlebt, erweist er ihr den tiefsten Respekt. Cuarón hat mehr getan, als nur Sprach-, Kultur- und Klassenbarrieren zu durchbrechen, um den bis dato besten Film seines Lebens zu erschaffen. Und egal auf welchem Medium der Zuschauer "Roma" sieht, dieser Game-Changer schreibt seine eigene Geschichte.9,5/10
Quellen:Inhaltsangabe: Netflix / Pimienta Films
Poster/Artwork: Warner Bros.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen