Profikiller John Wick (Keanu Reeves) hat mit seinem Rachefeldzug mittlerweile die halbe Unterwelt gegen sich aufgebracht, welcher in New York, Berlin, Paris und Osaka jetzt in die vierte Runde geht. Sein Team, bestehend aus Bowery King (Laurence Fishburne), Hotelbetreiber Winston (Ian McShane) und dem Concierge Charon (Lance Reddick) des legendären Auftragskiller-Hotels Continental, ist erneut mit von der Partie. Die Chancen, dieses Mal davon zu kommen, sehen jedoch nahezu unmöglich aus, da sich nun der größte Feind erhebt. Der skrupellose Unterwelt-Boss Marquis de Gramont (Bill Skarsgård), welcher ganze Allianzen hinter sich versammelt, stellt die bislang größte und blutrünstige Bedrohung dar. Doch auch seine Handlanger haben es in sich, unter denen sich Shimazu (Hiroyuki Sanada) und Killa (Scott Adkins) befinden. Zum Glück gibt es alte Verbündete wie Caine (Donnie Yen), die Wick zur Hilfe eilen...
Gegen Ende des vierten Kapitels der extravaganten und gleichzeitig brutalen "John Wick"-Actionreihe, dem epischen Höhepunkt, stürzt der unverwüstliche Auftragskiller John Wick (Keanu Reeves) eine Reihe Treppenstufen hinunter. Und zwar eine ganze Menge. Auf dem Weg zum finalen Showdown in der Basilika Sacré-Coeur in Paris wird er von einem Feind die 222 Stufen der berühmten Rue Foyatier hinuntergeschleudert und stürzt eine Stufe nach der anderen hinunter. Schließlich kommt er auf einem Treppenabsatz zum Halt, nur um von seinem Gegner die restlichen Stufen hinuntergeschleudert zu werden. Und dann wird die absurde Zeit, die man damit verbringt, ihm dabei zuzusehen, wie er den Weg herabstürzt, den er gerade hinaufgestiegen ist, zu seinem eigenen todernsten, sisyphushaften Witz.
Diese Stelle ist in den restlichen 2 Stunden und 49 Minuten von "John Wick: Kapitel 4" nicht mehr ganz so lustig, aber das soll sie vermutlich auch gar nicht sein. Der antiheldenhaften Killermaschine Wick passiert in seinem vierten Auftritt einfach so viel, während er sich einen blutigen Weg von New York über Osaka, Berlin nach Paris bahnt. Eine Szene nach der anderen zieht sich weit über den Punkt der Redundanz hinaus, die zahllosen feierlichen Zeremonien und ausladenden Actionsequenzen versuchen, so hat man das Gefühl, sich gegenseitig zu übertreffen. Eine ganz und gar ernst gemeinte und ganz und gar übertrieben-herrliche Selbstverliebtheit setzt dem Franchise die Krone auf. Der berühmte Filmkritiker Roger Ebert hat einmal gesagt, dass kein guter Film zu lang ist. Er wollte damit nicht sagen, dass der Spaß ewig dauern muss, sondern dass eine gut erzählte Geschichte eben so lange dauert, wie sie dauert. Doch Wicks neuester Streich frönt dem Überfluss um seiner Selbst willen, und wo der hemmungslose Exzess bei so vielen anderen Filmen das Tor zur wahnsinnigen Inspiration aufgestoßen hat, fehlt dem Regisseur Chad Stahelski hier der Instinkt für Aufbau und Präsentation.
Was aber Anfangs niemand vorhersehen konnte, war, wie
gut die kontraintuitive Besetzung funktionierte. Reeves, ein
Schauspieler, der selbst in seinen stoischsten Momenten seine angeborene
Sympathie nicht verbergen kann, ist wärmer, als es die Rolle erforderte
- und genau das machte die Verbindung zum Zuschauer aus. Sein John Wick ist ein
wilder Bösewicht, der in den Abgrund blickt - und er hat doch diesen einen Funken
Anstand - vor allem gegenüber Tieren. Er begann als Noir-Antiheld, aber mit jedem Film wurde die Reihe wilder, da Wick zu einer Art
Superheld erhoben wurde. Er hat zwar keine übermenschlichen Kräfte, aber
er besitzt die unglaubliche Eigenschaft eines Stehauf-Männchens, eine Art Unbesiegbarkeit, die einzige Superkraft,
die man wirklich braucht. "John Wick: Kapitel 2" und "John Wick: Kapitel 3:Parabellum" waren als Actionfilme angelegt, die sich auch nur um ebenjene Actionsequenzen
drehten, die dann auch bewusst und herrlich übertrieben waren. Es spielte fast
keine Rolle, dass die Handlung und die Dialoge nicht ganz so gut waren (bis auf die absurde Höflichkeit und den gegenseitigen Respekt unter Killern). Doch die
Zuschauer (und auch ich nehme mich da nicht heraus) erlebten diese Szenen wie Drogen und wollten immer mehr davon
Der
vierte Film vervollständigt nun die Kosmologie der Reihe mit einem elementaren
Rache-trifft-Befreiungs-Plot. Sowohl in der mit Nebenfragen verstopften
Erzählung als auch in den
virtuosen Kampfsequenzen
spürt der Zuschauer den Unterschied zwischen Maximalismus und dem bloßen
Vorhandensein von viel Stoff irgendwo in der dritten Stunde. Man bekommt das Gefühl, dass die Macher mit
diesem überlangen Actionfilm ein einzigartiges Epos bringen wollten. Um das sacken zu lassen: "John Wick: Kapitel 4" ist 169 Minuten lang, doch seine Geschichte könnte, wenn sie
etwas flotter erzählt werden würde, in einen etwa 90-minütigen Film passen. Doch so, wie Stahelski, ein Ex-Stuntman, den Film inszeniert hat, voller
gedämpfter, unheilvoller, ritualisierter verbaler Showdowns, die
hypnotisch auf jede neue Actionszene aufbauen sollen, fühlt sich
"Kapitel 4" an wie der erste "John Wick"-Film, der ein Clint
Eastwood-Spaghetti-Western sein will. Es ist wie eine Mischung aus
Sergio Leone und John Woo, wie man sie früher einmal gesehen hat. Und das ist - bei aller Kritik - überaus spaßig, interessant und damit fesselnd.
Der Wermutstropfen ist, dass dieses unnötige "in-die-Läge-ziehen" vor allem gegen Ende etwas frustriert. Und es frustriert vor allem deshalb, weil die eigentliche Handlung auch noch in einen einzigen Satz passt: Wick wird von seiner ehemaligen Killerzunft gejagt und muss seinen Namen reinwaschen, indem er den neuen Oberboss Marquis (Bill Skarsgard, dessen markante Lippen, sein hassenswertes Auftreten und der buchstäbliche Silberlöffel in seinem Ar*** ihn auch als verweichlichtes, privilegiertes Hassobjekt kennzeichnen) in einem Duell besiegt. Das sollte eigentlich ganz einfach sein, wenn nicht die Autoren dieser Serie beschlossen hätten, dass ihr Publikum nicht genug davon bekommen kann. Der Satz, der in anderen Filmen als Exposition gilt, wird hier erst nach etwa einer Stunde ausgesprochen, als ein Verbündeter John Wick mitteilt, dass es diese "Du kommst aus der angeordneten Hinrichtung frei"-Karte überhaupt gibt, nur dass er seine Herausforderung nicht formell beim Marquis einreichen kann, bevor der einsame Wolf Wick nicht einer der offiziell anerkannten Familien der Gilde seine Treue geschworen hat. Und das kann er erst, wenn er einen rundlichen lokalen Mafioso (der großartige Scott Adkins, kaum wieder zu erkennen und flink sogar in einem ansehnlichen Fettanzug) aus dem Weg geräumt hat, um sich ihre Gunst zu sichern. Und so weiter und so fort.
In dem Maße, in dem Wicks Stories dem gleichen Schema wie Disney-Filmen folgen, mit Schießereien anstelle von Musik-und-Tanz-Nummern, muss das Drehbuch nicht viel mehr tun, als die Figuren von einem Showstopper zum nächsten zu führen. Und jeder Schauplatz hat ein amüsantes Gimmick; eine Armee von Kerlen in kugelsicheren, maßgeschneiderten Anzügen muss mit Kopfschüssen erledigt werden, ein (erneut) blinder Söldner (Donnie Yen) schaltet seine Feinde mit Hilfe von Türklingelsensoren aus, eine beeindruckende Luftaufnahme mit kreiselnder Kamera zeigt Wick bei einem Amoklauf mit Schrotflinte und "Dragon Breath"-Munition (die Ferinde nicht nur perforiert, sondern auch noch in Brand setzt) in einem verlassenem Gebäude. Alles grandios, einnehmend, fesselnd und irgendwie hypnotisch. Die legendäre Freed-Truppe, die für die MGM-Extravaganzen des Goldenen Zeitalters verantwortlich war, hat einfach verstanden, dass man nur eine mehrteilige Traum-Ballett-Fantasy-Suite bekommt und dass das große Finale - in diesem Fall ein bleihaltiges Handgemenge im Kreisverkehr um den Pariser Arc de Triomphe - am Ende kommen sollte. So wie ein Schauspieler, der sich zum Regisseur entwickelt hat, seinen Darstellern den Freiraum gibt, den er sich für sich selbst schon immer gewünscht hat, wird die offensichtliche und oft liebenswerte Zuneigung des ehemaligen Stuntman Stahelski zu seinen Berufskollegen in beeindruckenden Schlachten, die vielleicht durch zwei oder drei überflüssige Takte behindert werden, noch verstärkt.
Ist "John Wick: Kapitel 4" zu lang? Ja, sicher. Es gab mal eine Zeit, in der sparsame Studiobosse die sinnlosen Verfolgungsjagd zu Pferd im Nahen Osten, die wenig zielführende Einlage in Deutschland oder den moralisch zweideutigen Tracker (Shamier Anderson), mit dem die Drehbuchautoren Shay Hatten und Michael Finch nichts anzufangen wissen, zwangsweise gestrichen hätte. Aus welchen Gründen auch immer - vielleicht hat die endlose Abfolge von Streaming-Inhalten die Vorstellung des Zuschauers von einer langen Laufzeit neu ausgerichtet - hat Hollywood seinen Frieden mit dem dreistündigen Blockbuster gemacht und erwartet, dass das Publikum das Gleiche tut. In manchen Momenten wirkt "John Wick: Kapitel 4" wie ein liturgischer Gottesdienst, statt wie ein Actionfilm. Doch der Film ist wohl als bewusst überladenes Geschenk an die "John Wick"-Fans gedacht, und das ist ihm auch gelungen. Mehr als das. Der vierte Einsatz von John Wick ist zu keiner Minute wirklich langweilig. Soll heißen: die treueste Fraktion der "John Wick"-Fangemeinde wird sich zweifellos darüber freuen, dass ihr Glaube, man könne nie zu viel des Guten haben, in die Praxis umgesetzt wurde. Unter Umständen haben diejenigen Zuschauer, die das Original für seine brutale, sehnige Agilität schätzten, etwas anderes erwartet - aber sie bekommen einen actionreichen Giganten von einem Film, der bereit ist, vollständig abzuliefern. Und das mit Wucht.
8/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Leonine
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