Dienstag, 12. Mai 2020

Berlin Calling (2008)

https://www.imdb.com/title/tt0211946/

Drogen und Musik - die beiden Dinge treiben DJ Ickarus (Paul Kalkbrenner) an. Sind es gar die illegalen Substanzen, die sein volles kreatives Potential erst zur Entfaltung bringen? Gerade werkelt er an einem neuen Album, bei dessen Fertigstellung Freundin und Managerin Mathilde (Rita Lengyel) hilft. Als Ickarus nach einem Auftritt im Club einen völligen Zusammenbruch erleidet, wird er in die Psychiatrie eingeliefert und dem Polytoxikomanen dort dringend zu einer Entziehungskur geraten. Nach einigem Zögern willigt er ein, da ihm seine Ärztin Prof. Petra Paul (Corinna Harfouch) erlaubt, in der offenen Station weiter an seinem Album zu arbeiten. Doch er wird rückfällig und isoliert sich zunehmend...

Filme über Berlin können öde sein, weil sie gerne mal in einem hohlen Szenepathos schwelgen und sich darin verlieren. Wenn es dann noch um angesagte Techno-Clubs geht, kann man das nur als eingefleischter Fan oder als Berufsjugendlicher genießen. Beide Klippen hat Hannes Stöhr mit seinem Film "Berlin Calling" souverän umschifft. Sein fiktives Porträt eines erfolgreichen Elektro-Komponisten wirkt authentisch. Und zwar nicht deshalb, weil man sieht, wie in einschlägigen Partyzonen der Berliner Bär steppt, sondern weil der Film ein Interesse an seiner Hauptfigur, DJ Ickarus, weckt. Acting statt Clubbing. Und Darsteller Paul Kalkbrenner gibt ein fesselndes Leinwanddebüt. Als erfolgreicher Musiker spielt er sich mehr oder weniger selbst, dies jedoch mit einer zurückhaltenden und zugleich intensiven Präsenz, auch wenn man der Ansicht sein kann, dass der Film ihm ein Stück weit in den Mainstream gerückt hat.

Seine Geschichte entwickelt der Film überzeugend aus der Struktur der Musik. Monoton und repetitiv wie die Beats ist der Tagesablauf des DJs, der stereotyp zwischen Party und Flughafenlounge alterniert. Professionelle Ekstase am Mischpult kann irgendwann nur noch mit Ecstasy erzeugt werden. Die vernebelte Drogenwahrnehmung wird aber nicht wie üblich mit optischen Tricks stilisiert, sondern durch zurückhaltend eingesetzte Toneffekte beklemmend glaubhaft dargestellt. In einer der eindrücklichsten Szenen kommt der DJ von einem Trip einfach nicht mehr zurück. Im Frühstücksraum eines Hotels breitet er Joghurt und Müsli über Tisch und Körper aus zu einem irren Muster, in dem er seine zerfetzte Gedankenwelt zu ordnen versucht: Hannes Stöhr gelingen dabei Bilder, in denen sich der Seelenzustand seines Protagonisten ganz klar ausdrückt. Nicht ganz so präzise gezeichnet sind einige der Nebenfiguren wie etwa die Managerin der Plattenfirma oder die Freundin des DJs, Mathilde, gespielt von Rita Lengyel. Lengyel wirkt eher durch ihre Physiognomie und Präsenz als durch ihre Darstellung.

Doch solche kleineren Schwächen verzeiht man dem Film, weil er das Schicksal seines Helden beiläufig in eine interessante Familienstruktur einbindet. Ickarus' Vater (überzeugend: Udo Kroschwald) ist ein verhuschter evangelischer Pastor, aus dessen Mund das Wort Gott alles andere als glaubhaft wirkt. Plausibel erscheint es daher, dass Trieb- und Drogenverzicht durch einen mütterlichen Charakter vermittelt werden: Corinna Harfouch spielt die resolute Psychiaterin mit Eiseskälte. Ihre Figur ist wie die gesamte Episode in der Nervenklinik ein kreatives Zitat aus dem Seventies-Klassiker "Einer flog über das Kuckucksnest". Milos Formans schweigsamen Indianer hat Hannes Stöhr zur genialen Nebenfigur des "Goa Gebhard" abgewandelt, der auf LSD ewig weitermeditiert.

Und damit überzeugt "Berlin Calling" trotz einiger Längen durch das kreative Potenzial des Regisseurs und Autors Stöhr, das unter anderem in pointierten Dialogen aufblitzt. Etwa wenn DJ Ickarus mit einer unwiderstehlichen musikalischen Metapher die Wirkung der Psychopharmaka beschreibt: "Die hauen mir die Höhen und Tiefen weg." Dafür hat der Film umso mehr Zwischentöne.

8/10

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