Carla (Leonie Benesch) ist Mathematik- und Sportlehrerin und nicht nur neu an ihrer Schule, sondern überhaupt im Beruf. Kaum angekommen, stellt sie fest, dass dort gestohlen wird. Nun könnte sie sich mit diesem Zustand abfinden, aber genau das will sie eben nicht tun. Getrieben von ihrem noch ungebrochenen Idealismus beginnt sie zu ermitteln und stößt dabei insbesondere bei ihrem Kollegium, den Eltern und ihren Schülern auf Unverständnis. Dazu kommt, dass die Hauptverdächtige ausgerechnet die Mutter ihres Schülers Oskar (Leo Stettnisch) ist. Da beginnt Carla zu merken, dass ihre Idealvorstellung kaum mehr mit der Realität zu vereinbaren sein wird.
Einen spannenden Thriller über Dinge zu machen, die jeden Tag passieren, erscheint nicht einfach zu bewerkstelligen. Aber Ilker Çataks "Das Lehrerzimmer" ist darin richtig gut. Es ist wahrscheinlich der beste Thriller dieser Art, in dem es nervenaufreibend ist, realistischen Charakteren dabei zuzusehen, wie sie schlechte Entscheidungen treffen. Dabei ist es etwas unklar, ob der Film das etwas gedämpfte, an Kunstkino angelehnte Ende "Es liegt an Ihnen, zu entscheiden, was als nächstes passiert“ ganz verdient, aber das ist nur ein winziger Bruchteil der kompakten Laufzeit des Films, die den Zuschauer ansonsten in die Gedankenwelt eines jungen Lehrers an einer deutschen weiterführenden Schule versetzt, wo ein Diebstahl alle paranoid und nervös gemacht hat und sie dazu veranlasst, Entscheidungen zu treffen, die sie später bereuen, wenn sie auch nur einen Funken Anstand haben (einige von ihnen vielleicht nicht).
Leonie Benesch spielt Carla Nowak, eine polnische Emigrantin, die Mathematik und Sport unterrichtet. Sie ist eine Idealistin in Bezug auf Bildung und die Verpflichtung der Bürger, aufeinander zu achten. Sie ist eine Weltverbessererin - ein bisschen neugierig, aber meist auf konstruktive Weise. Als eines ihrer Kinder aus der Klasse gezerrt wird und des Diebstahls beschuldigt wird (aufgrund eines anonymen Hinweises auf die ungewöhnliche Menge an Bargeld, die er in seiner Portemonnaie hat), muss Carla an einer Konferenz mit dem Jungen und seinen Eltern teilnehmen. Die Eltern hingegen erklären, dass sie ihm das Geld gaben, damit er ein Videospiel kaufen konnte, und behaupteten, dass es Rassismus (sie sind türkischer Abstammung) sei, der sie in diese demütigende Lage gebracht habe. Das scheint eine überzeugende Erklärung zu sein. Carla glaubt es. Doch das Ereignis verstärkt ihre Angst vor Diebstahl. Als sie das nächste Mal in der Pause im Lehrerzimmer ist und dieses verlassen muss, lässt sie ihren Laptop offen und die Videokamera läuft heimlich. Als sie zurückkommt, stellt sie fest, dass in der Brieftasche, die sie in der Innentasche ihres Mantels gelassen hat, etwas Bargeld fehlt. Eine Überprüfung der Aufnahme zeigt, dass jemand Geld aus ihrer Brieftasche nahm, während sie nicht im Zimmer war. Und ab diesem Punkt verfeinert der Film seine paranoide Thriller-Ästhetik: So wie man nie gesehen hat, wie die Anklage gegen den Jungen erhoben wurde, geschweige denn, ob er jemand anderem Geld gestohlen hat, sieht man auch nicht wirklich, wer Carlas Geld gestohlen hat, sondern nur einen Ärmel einer Bluse mit Sternmuster darauf. Die gleiche Art von Bluse trug eine Mitarbeiterin, die in einem Büro arbeitete, das nur wenige Meter vom Lehrerzimmer entfernt war, und sie hätte sehen können, wie Carla das Wohnzimmer verließ, weil sie es durch ein großes Glasfenster gut beobachten konnte. Der Zuschauer ist auf der Seite von Carla, wenn sie diese Frau als Diebin identifiziert - denn wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Frauen in einer kleinen Schule an diesem Tag dieselbe markante Bluse trugen?
Aber als der Film weitergeht und sich die Komplikationen häufen, beginnt man an seiner Gewissheit zu zweifeln, ebenso wie Carla, die sich schnell wünscht, sie hätte den Mund gehalten, was den Diebstahl und so ziemlich alles andere angeht. Die von ihr angeklagte Mitarbeiterin hat einen Sohn in ihrer Klasse. Der Junge ist verständlicherweise verstört und wütend, als seine Mutter wegen einer Untersuchung suspendiert wird. Es scheint, dass er dann eine Kampagne inszeniert, um sie in den Augen seiner Klassenkameraden in ihren Eltern zu diffamieren. Çatak liefert dabei durchgehend Nahaufnahmen verschiedener Charaktere, die einen denken lassen: "Diese Person lügt“ oder "Diese Person ist ein Dieb“ oder einfach "Diese Person plant etwas gegen Carla“. Aber der Film ist so fest in Carlas Standpunkt verwurzelt, dass man an seinen Einschätzungen genauso oft zweifelt, wie Carla an ihren. Wahrscheinlich ist es am besten, sich den Film als eine Art Parabel vorzustellen, in der eine alltägliche Institution realistisch und mit korrekten Verfahrensdetails dargestellt wird, aber auch für ein größeres System oder eine Reihe von Idealen steht. Der Film geht ebenso subtil mit nationalen, rassischen und klassenbezogenen Ressentiments um wie mit allem anderen. Sie sind Faktoren bei allem, was passiert (Carla, die Polin ist, erlebt selbst rassistische Anfeindungen). Über die Einzelheiten kann man sich jedoch nie im Klaren sein, da so viel außerhalb der Story geschieht. Regie, Kamera (von Judith Kaufmann) und Schnitt (von Gesa Jäger) sind außergewöhnlich. Jede Entscheidung ist durchsetzungsfähig und präzise, wirkt aber selten mühsam. Einfachheit ist der Schlüssel. Ein Großteil des Films besteht aus stetigen Handaufnahmen von Menschen, die reden, gehen und sich durch das Bild bewegen, oft ohne Musik, obwohl die dissonanten, nervigen Saiten des Komponisten Marvin Miller manchmal aufsteigen und um Carla herumwirbeln und sie anstoßen.
Man kennt das ja, wenn man einen dieser Tage oder Wochen hat, an denen etwas Schlimmes passiert, und die Reaktion darauf macht es noch schlimmer, und die Reaktion auf die Reaktion führt zu einer Eskalation, die alles noch schlimmer macht, und alles geht einfach weiter und weiter, und es kommt einem so vor, als würde man sich immer tiefer in ein Loch graben. Das ist "Das Lehrerzimmer". Çatak und Co-Autor Johannes Duncker haben jedenfalls eine weitgehend unerforschte Unterkategorie des Thrillers erschlossen, die unbegrenztes Potenzial hat, den Alltag zu beleuchten.
7,5/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Alamode Film
Poster/Artwork: if... Productions/Alamode Film
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