Samstag, 1. Juli 2023

智齒 - Zhì chi - Limbo (2021)

https://www.imdb.com/title/tt14032696/

Der frisch von der Akademie eingetroffene Polizeianfänger Will Ren (Mason Lee) bekommt als seinen ersten Partner ausgerechnet den just von einer längeren Suspendierung zurückgekehrten Veteranen Cham Lau (Lam Ka Tung) zugeordnet. Während die zwei noch versuchen, sich zusammenzuraufen, müssen sie gleich in einem verzwickten Fall ermitteln. Es geht um einen brutalen, von der Presse „Hand Fetish Ripper“ getauften Serienkiller. Da sie bei der Suche nach dem Täter nicht wirklich vorankommen, aber immer neue Opfer aufgefunden werden, greifen die Cops zu einer verzweifelten Maßnahme: Sie bitten die Kriminelle Wong To (Yase Liu) um Hilfe und darum, als Köder für den Killer zu agieren. Da die junge Frau in einen Unfall mit Chams Familie verwickelt war und dadurch Schuld auf sich geladen hat, erklärt sie sich bereit mitzuspielen. Doch können die Beamten ihr wirklich vertrauen? Oder spielen sie dem menschlichen Monster, das nur auf eine Chance zu einem weiteren Mord lauert, mit dieser Maßnahme sogar noch in die Hände? 

Der aus Hongkong stammende Neo-Noir/Schwarz-Weiß-Krimi "Limbo" fängt auf eindrucksvolle Weise die dunklen, urbanen Schattenseite des heutigen Hongkong ein und ist in mehr als einer Hinsicht düster. "Limbo" hatte es allein bei seiner Veröffentlichung nicht leicht. Als klar wurde, dass der Film der Kategorie III (das Äquivalent zu NC-17 in den USA) niemals durch die chinesische Zensur kommen würde, nahmen die Produzenten ihn mit zu den 71. Berliner Filmfestspielen und brachten ihn nur in Hongkong (und nicht in ganz Cina) in die Kinos. Wie befürchtet, mussten sie daher einen massiven finanziellen Verlust hinnehmen, aber nichtsdestoweniger erhielt der Film sehr postitive Kritiken. Regisseurin Soi Cheang erzählt die Geschichte einer Gangsterbraut namens To (Cya Liu), die einem verbitterten Detektiv namens Cham (Gordon Lam Ka-tung) hilft, einen Serienmörder aufzuspüren. "Limbo" ist Hongkong-Krimikino vom Feinsten - eine etwas abgedroschene, faule Geschichte, aber mit einem verdammt grandiosen Pessimismus für die Stadt und den besten Aufnahmen, die seit Jahren aus Hongkong kommen.

"Limbo" ist in erster Linie eine ästhetische Leistung. Ein Film, der von Anfang bis Ende zu 100 % in Schwarz-Weiß gedreht wurde, ist in der Hongkonger Filmindustrie selten. "Limbo" wurde in der Postproduktion in Schwarzweiß konvertiert, aber abgesehen von ein paar flachen Aufnahmen bei Tageslicht verrät der Film diese Herkunft nicht. Schwarz-Weiß bringt mehr Kontrast in den Schatten als Farbe, und "Limbo" macht sich das zunutze, um ein Hongkong zu schaffen, das noch gutturaler und höllischer wirkt, als es ohnehin schon ist. Kameramann Cheng Siu-keung, der Stammgast von Johnnie To, ist Hongkongs Roger Deakins, der bei den Hongkong Film Awards trotz vieler verdienter Filme und acht Nominierungen immer noch leer ausgeht. Er liefert wieder einmal eine atemberaubende Arbeit ab.

"Limbo" wurde nach einer Kurzgeschichte adaptiert, die eigentlich inmitten Chinas, auf dem Festland, spielt. Wenn man sich den Film anschaut, kann man das kaum glauben, denn Cheang hat die Geschichte durch ein bemerkenswertes Produktionsdesign nahtlos nach Hongkong verlegt. Der größte Teil des Films spielt sich in Hinterhöfen und heruntergekommenen Wohnungen ab, oft inmitten sintflutartiger Regengüsse. Das Produktionsdesign-Team hat eine extrem visuelle und offensichtlich mühsame Arbeit abgeliefert und Berge von Müllsäcken, abgetrennten Gliedmaßen, Sümpfen und Fliegen geschaffen. Während die Schauspieler im Dreck herumtaumeln, ist das Ergebnis fast ekelhaft und doch unwiderstehlich anzusehen. Cheng fängt selbst das kleinste Insekt in seinem Breitbildformat vollständig ein, ein Zeichen für die fruchtbare Zusammenarbeit verschiedener Teams bei einer Produktion. Alle Handwerker hinter dem Film arbeiten zusammen, um Cheangs Vision zu verwirklichen - ein stilisiertes, aber nicht realistisches, vertrautes und doch leicht fremdes Hongkong, das den Zuschauer in Atem hält.

Leider erreicht die Geschichte von "Limbo" nicht die Höhepunkte seiner visuellen Darbietung. Die zweite Hälfte von Limbo bleibt etwas oberflächlich, ohne Tiefgang. Der Aufbau von "Limbo" ist ein altgedienter Bad Cop, der sich mit einem regelkonformen Akademieabsolventen zusammentut; die unmittelbare Bequemlichkeit dieser Tropen ist ihre papierdünne Unauthentizität nicht wert. Als Cham zu opernhaft grausamen Methoden greift, um sich an To zu rächen, wirkt die Prämisse, dass To zustimmt, ihm zu helfen, weit hergeholt, selbst in der Welt des Hongkong-Kinos, die von Ehre und heldenhaftem Blutvergießen geprägt ist. Weil To sich bereit erklärt, ihm zu helfen, ist die anschließende Untersuchung viel zu einfach und wird den Detektiven auf dem Silbertablett serviert. Aber das Drehbuch, vor allem in seinen Frage-und-Antwort-Szenenübergängen, hat immer noch eine Eleganz, die bei weitem die unrealistischen, peinlich sloganartigen Dialoge vermeidet, die viele Hongkong-Filme der letzten Zeit plagen. Die meisten Probleme des Drehbuchs werden ausgelöscht, wenn sich der Film in seinem dritten Akt thematisch herauskristallisiert. Die unerbittliche Grausamkeit des Films - nicht immer auf der Leinwand und nur einmal ausbeuterisch - hat kein Ende in Sicht; es wirkt völlig verzweifelt und warnt, auch nur eine weitere Minute in diesem Hongkong zu verbringen.

Wie "Infernal Affairs", der Hongkongs Identitätsverwirrung nach der Wende als ewige Hölle metaphorisiert, verdammt "Limbo" Hongkong zu einem Kreislauf der Gewalt ohne Ende. Es ist ebenso vorausschauend wie ein Zeichen der Zeit, dass "Limbo" bereits 2017 gedreht wurde, noch bevor die Proteste 2019 ausbrachen und Hongkong zu einem Polizeistaat wurde. Und wenn das neu gestaltete Hongkong von "Limbo" dem Publikum jemals zu bequem fremd wird, verwickelt Cheang den Zuschauer mit einem wachsamen Zug oder Verkehr in der Einstellung. "Limbo" findet also auch einen Weg, das bewährte Genre des Hongkong-Kinos mit Cops und Kriminellen fortzusetzen, ohne die aktuelle gesellschaftliche Realität zu ignorieren. Ein Film, in dem eine umstrittene Beziehung im Mittelpunkt steht, verlangt von seinen Hauptdarstellern herausragende Leistungen. Dass der produktive Gordon Lam Ka-tung wie immer zuverlässig spielt, sollte niemanden überraschen - genau wie Andy Lau, Sean Lau Ching-wan und Nick Cheung. Die größte Überraschung ist Cya Liu. Sie spielt auch nie ein hilfloses Opfer oder verliert die Kontrolle über ihre Figur, selbst wenn sie wiederholt körperlichen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist. Die Nebendarsteller Hiroyuki Ikeuchi und Fish Liew spielen ein köstliches, einprägsames Antagonistenpaar. 

Alle Aspekte von "Limbo" sind so raffiniert und sorgfältig, dass sie den Zuschauer dazu einladen, jeden einzelnen Bereich aufzulisten und zu loben. Doch "Limbo" ist dazu bestimmt, ein neuer Klassiker des Hongkong-Krimis zu werden, nicht weil er das beste Handwerk des Hongkong-Kinos seit Jahren liefert, sondern weil er den Zeitgeist der Stadt in seinem Ton und seinen Themen eingefangen hat. Der Titel des Films bedeutet auf Chinesisch "Weisheitszahn", eine ziemlich elementare, immer wiederkehrende Metapher im Film, aber die Filmemacher haben sich klugerweise dafür entschieden, ihn für die weltweite Vermarktung in "Limbo" umzubenennen. Und wenn man den Film sieht, wird man bedächtig nicken und zustimmen.

8/10

Quellen
Inhaltsangabe: Capelight

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