https://www.imdb.com/de/title/tt29344903/Im Königreich "Swedlandia", in dem Schönheit ein brutales Geschäft ist, kämpft Elvira (Lea Myren) darum, mit ihrer unglaublich schönen Stiefschwester Agnes zu konkurrieren. Nachdem Elviras Mutter Rebekka und Agnes' Vater Otto geheiratet hatten, kamen die beiden jungen Frauen anfangs eigentlich ganz gut miteinander aus, doch nach Ottos Tod ist alles anders. Rebekka muss feststellen, dass ihr neuer Mann ihr kein Geld hinterlassen hat, und so beschlagnahmt die Bank das Vermögen der Familie und lässt sie mittellos zurück. Elvira tut alles, um dies zu ändern und die Aufmerksamkeit des Prinzen zu erregen, dem begehrtesten Junggesellen des Königreichs, der alle in Frage kommenden jungen Damen der Region zu einem Ball eingeladen hat, auf dem er seine Braut auswählen möchte. Elvira hat weder einen Titel noch das Aussehen, das dem Prinzen den Kopf verdrehen würde, und so beginnt ihre Mutter Rebekka mit der Umgestaltung ihrer Tochter. Sie beauftragt den Quacksalber und Schönheitschirurgen Dr. Esthétique, die Zähne, Nase und Augen ihrer Tochter zu korrigieren. Und sie wird alles tun, um die Aufmerksamkeit des Prinzen auf sich zu ziehen...
Die norwegische Regisseurin Emilie Blichfeldt gibt ihr Filmdebüt mit einer raffinierten, revisionistischen Body-Horror-Version von "Aschenputtel"/"Cinderella", aufwendig kostümiert und gestaltet - und bietet überdies eine ebenso explosive wie umfassende psychologische Reise durch das Universum der Schönheit. An Historienfilmen ist ja meistens toll, dass sie die Fähigkeit haben, gesellschaftliche Erwartungen, insbesondere an Frauen, zu ergründen, die auch heute noch unsere Gegenwart widerspiegeln. "The Ugly Stepsister" ist grausam und zeigt die Titelfigur, die eine Reihe schmerzhafter Prozeduren und Handlungen durchmacht, um den Prinzen zu heiraten. Der Film ist eine schmerzhafte, aber scharfsinnige Auseinandersetzung mit künstlicher Schönheit und ihren schrecklichen Folgen - ein Seitenblick geht in Richtung "
The Substance". In dieser verzerrten Version von "Aschenputtel"/"Cinderella" steht Stiefschwester Elvira (Lea Myren) im Mittelpunkt. Elvira ist gerade in das Haus von Agnes’ (Thea Sofie Loch Naess) Vater gezogen, nachdem Elviras Mutter (Ane Dahl Torp) ihn geheiratet hat. Man kennt die Geschichte von dort an, doch Blichfeldt fügt ihr geschickt eine Fülle unerwarteter Aspekte hinzu - darunter Bandwürmer, ein Tanzkurs und Verfahren, die Elvira eine echte Chance geben sollen, das Herz von Prinz Julian (Isaac Calmroth) zu gewinnen, dessen Gedichte Elvira leidenschaftlich liest und der davon träumt, in seine Arme geschlossen zu werden und glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu leben.

"The Ugly Stepsister" ist jedoch kein solches Märchen, und seine Stärke liegt in der Analyse von Schönheit als Performance, als Status, als Mittel, um in den Augen der Gesellschaft attraktiv und damit wertvoll zu bleiben. Elvira möchte den Prinzen unbedingt heiraten, so sehr, dass sie selbst bei ihrer Begegnung im Wald sein beklagenswertes Verhalten ignoriert und an ihren Vorstellungen von ihm festhält. Elviras Mutter drängt sie, "besser" zu werden, und gibt Geld, das sie gar nicht hat, dafür aus, Elviras Nase zu "korrigieren", ihre Zahnspange zu entfernen und sie durch Hungern zum Abnehmen zu zwingen. Elvira ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich zu beweisen und Agnes, die erste Wahl der Mädchenpensionat-Lehrerin, für einen Auftritt vor Prinz Julian auf seinem Ball zu schlagen, und dem Festhalten an idealistischen Fantasien, die in krassem Gegensatz zur Härte ihrer Realität stehen. Elviras Abstieg in die Dunkelheit von Schönheitsidealen, Schönheitsoperationen und dem Konkurrenzkampf um männliche Aufmerksamkeit macht sie zu einem gemeinen, aber zutiefst sympathischen Mädchen.
Der Zuschauer weiß natürlich längst, wie und warum sie zu einer boshaften Stiefschwester wird, und Blichfeldts Fähigkeit, die Schichten von Elviras Psyche freizulegen, während sie kopfüber in das rennt, was ihrer Meinung nach zu einem Happy End führen wird, ist wirkungsvoll. "The Ugly Stepsister" untersucht eingehend die Auswirkungen der Schönheitsindustrie auf die Menschen - bis zurück ins 19. Jahrhundert - und ihre Versprechen von Glück, Anerkennung und Status - und verspottet sie. Indem der Film dem Zuschauer den Horror zeigt, dem Elvira sich unterwirft und den sie sich manchmal selbst zufügt, erinnert er daran, wie lächerlich und gefährlich solche Ideale sein können. Amüsanterweise stellt Blichfeldt die Erwartungen auf den Kopf, welche der beiden weiblichen Hauptfiguren tatsächlich die grausame und eitle Stiefschwester ist und somit die authentische innere Schönheit besitzt. Wie in der Originalfassung gibt es auch in der Szene mit dem Anprobieren des Schuhs eine Handlungslücke: Der Prinz kann doch an den Gesichtern erkennen, wer seine wahre Liebe ist und wer nicht. Oder... ist es vielleicht gar keine Handlungslücke? Vielleicht ist der Fetischismus auf sekundäre Geschlechtsmerkmale der entscheidende Punkt.
Der norwegische Film spielt zwar in einer bekannten Geschichte, aber der Zuschauer kann hier doch neue Aspekte entdecken. Man wartet regelrecht gespannt darauf, was als Nächstes mit Elvira passieren würde und welche Konsequenzen ihre extremen Handlungen hatten, die sie dazu trieben, die Ideale - und offen gesagt den Masochismus - der Schönheit zu verkörpern. Daher findet "The Ugly Stepsister" seinen Horror im Grotesken. Szenen, in denen ein Arzt Wimpern in Elviras Augenlider näht oder sie sich sogar die (falschen) Zehen abhackt, damit sie in Agnes‘ Schuhe passt - ein Spiegelbild der Düsternis des Märchens der Brüder Grimm, das so oft aus der Geschichte herausgelassen wird - sind wirklich abstoßend und qualvoll anzusehen. Obwohl man sicherlich schon Schlimmeres auf der Leinwand gesehen hat, ist der Film in seiner Darstellung von Body-Horror ziemlich grausam und verstörend. Kein Wunder, dass sich
bei der Sundance-Premiere des Films jemand übergeben musste. Vielleicht liegt es daran, dass manche dieser kosmetischen Verhaltensweisen auch heute noch zur Schau gestellt werden, wenn auch offensichtlich in einem weniger schrecklichen und schmerzhaften Ausmaß, dass der Horror umso erschreckender wirkt. Der Zuschauer fühlt mit Elvira, ist aber gleichzeitig auch frustriert über ihr Handeln. Sie ist ein Opfer solch unrealistischer gesellschaftlicher Ideale, tut aber trotzdem ihr Bestes, ihnen gerecht zu werden. Es ist eine faszinierende Gegenüberstellung, die jeder wohl schon erlebt hat.
Myren liefert in der Titelrolle eine außergewöhnliche Leistung ab. Zu Beginn des Films erleben wir Elviras Unschuld. Sie ist einfach glücklich, in einem neuen Zuhause mit einer neuen Stiefschwester zu sein. Sie ist von Weitem glücklich mit dem Prinzen verbunden. Im weiteren Verlauf des Films wird sie oft gezwungen, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die ihr Auftrieb und Erbauung versprechen. Elvira verliert diese Unschuld und entwickelt eine innere Hässlichkeit, die sie ästhetisch ablegen sollte. Myren bringt all diese widersprüchlichen Gefühle zum Ausdruck und entführt den Zuschauer meisterhaft in Elviras vielschichtige Welt. Die Nebendarsteller sind ebenso exzellent, und der Film besticht durch ein herausragendes Produktionsdesign, Kostüme und eine Kameraführung, die Elviras düstere, verheerende Situation widerspiegelt. Insgesamt zieht Blichfeldt für diesen Film alle Register und beschert uns ein Kinoerlebnis voller Tiefe und prägnanter Kommentare, eingebettet in eine grausige Märchenwelt, die ebenso fesselnd wie intensiv ist. Ja, Blichfeldt hat ein überaus elegantes Debüt hingelegt.
8/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Capelight
Poster/Artwork: Scanbox Entertainment/Mer FIlms/Lava Films/Motor
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