Etwa zehn Jahre nachdem sie es mit dem ebenso mächtigen wie machthungrigen Mutanten Apocalypse aufgenommen haben, sind die X-Men rund um Charles Xavier (James McAvoy) zu Helden geworden. Doch der damit einhergehende Ruhm steigt dem an den Rollstuhl gefesselten Telepathen zu Kopf, so dass er seine Schützlinge auf immer gefährlichere Missionen schickt. Für ihren jüngsten Auftrag schickt er Mystique (Jennifer Lawrence), Beast (Nicholas Hoult), Storm (Alexandra Shipp), Nightcrawler (Kodi Smit-McPhee) und Quicksilver (Evan Peters) ins Weltall, wo sie einige verunglückte Astronauten retten sollen. Doch dabei wird ihr Raumschiff von einer Sonneneruption getroffen, die Jean Grey (Sophie Turner) zwar absorbieren und umlenken kann. Aber durch die enorme Energie erwacht eine mysteriöse Macht in ihr: die Phoenix Force. Jeans neue Kräfte lassen sich nur schwer kontrollieren und rufen schließlich auch eine außerweltliche Gestaltwandlerin (Jessica Chastain) auf den Plan, die Jagd auf sie macht...
"Dark Phoenix", das mittlerweile vierte Installment der neuen "X-Men"-Reihe ist vor allem ein Film über Persönlichkeitswandel und Verantwortung, der seine Thematik primär auf den Schultern von Jean Grey (Sophie Turner) und Charles Xavier (James McAvoy) (und am Rande vielleicht sogar noch Erik Lehnsherr (Magneto, Michael Fassbender)) zum Tragen bringt. Die Weltenrettung aus "X-Men: Apocalypse" hat die X-Men um Kurt Wagner (Nightcrawler, Kodi Smitt-McPhee) und Peter Maximoff (Quicksilver, Evan Peters) zu Helden des Alltags gemacht. Die Mutanten werden nicht mehr verfolgt, sondern gefeiert, der Präsident schüttelt mit Charles auf offiziellen Banketten die Hand und hat einen direkten Telefonanschluss für Notfälle. Raven (Mystique, Jennifer Lawrence) ist einerseits der immer riskanter werdenden Missionen überdrüssig, die andererseits auch noch das Leben der Mutanten für die normale Bevölkerung riskieren. Charles wiederum sieht den Superhelden-Status auf Abruf seiner jungen Schüler als simpelste Form der Akzeptanz an.
Als sich im Verlauf Jean zu "Dark Phoenix" entwickelt und dabei Angriffe auf die Staatsgewalt folgen, wandelt sich dieses Bild wieder (zu) schnell ins Gegenteil. Vergessen sind auf Knall und Fall die Einsätze der X-Men, die zum Beispiel das Leben der Astronauten auf der "Endeavour" retteten. Wie genau diese Wandlung vollzogen wird, wird jedoch nicht klar, da sich vor allem die jüngeren (aber auch älteren) "X-Men"-Filme nie wirklich mit dem Thema der Diskriminierung, die dem Comic innewohnte, auseinandersetzen wollten. Das ist prinzipiell auch nicht notwendig, um das Kinopublikum zu unterhalten, doch wenn man die Thematik schon anreißt, dann muss man sie auch behandeln. In "Dark Phoenix" sieht man aber – wie, fairerweise in den Filmen zuvor auch – keine wirklichen Vertreter jener Schicht Mutanten, die im Comic als Morlocks aufgrund ihres Aussehens als soziale Außenseiter im Untergrund hausen.
Stattdessen sieht "Xavier’s School for Gifted Youngsters" aus wie ein Internat für die reiche weiße Oberschicht. Wo man es von Hank (Beast, Nicholas Hoult) gewohnt ist, dass er sich seine mutierte Form für X-Men-Aktivitäten aufhebt, befremdet es etwas, dass auch Raven hier ihr natürliches Erscheinungsbild alsbald für die blonde Schönheit von Jennifer Lawrence aufgibt. Außer Kurt hätte eigentlich niemand von ihnen sichtbare Probleme, in der Gesellschaft unterzutauchen, weshalb die Schule als Refugium und Ersatzfamilie in "Dark Phoenix" nicht recht funktionieren will. Was reichlich seltsam ist, klappt dies in den vorigen Filmen doch auch. Unklar ist zudem, wieso sich alle Figuren mit ihren Real- statt Codenamen ansprechen, mit Ausnahme der afrikanischen Ororo (Alexandra Shipp), die stets als Storm tituliert wird. Kurz und gut: man merkt quasi sofort, dass hier eben nicht mehr Bryan Singer am Ruder stand.
Mit der Genesis von "Dark Phoenix" im Weltraum und der Integration von Vuk und den D’Bari bewegt sich Regisseur Simon Kinberg zwar näher am Originalcomic, dennoch ist seine Adaption wie schon die von 2006 zu distanziert von ihren Figuren, damit sich die Geschichte entsprechend entfalten kann. Wo man damals zumindest in "X-Men" und "X2" Zeit mit Jean verbringen konnten, wurde diese nun erst in "X-Men: Apocalypse" als Nebenfigur eingeführt. Wer sie wirklich ist, welche Bedeutung die X-Men für sie haben, wird in "Dark Phoenix" praktisch nicht erklärt. Weshalb der Wandel der Figur, ihr Trauma und ihre Zweifel, kaum Eindruck beim Zuschauer hinterlassen. Um mit Jean zu leiden, müsste man erst eine Beziehung zu ihr besitzen - welche Kinberg schlicht übergeht.
Denselben Vorwurf müssen sich auch die Gegenspieler gefallen lassen. Was die D’Bari wollen, wer sie überhaupt sind und wer Jessica Chastains Figur ist, wird in einer kurzen Szene buchstäblich im Vorbeigehen erwähnt. Die Motive der Aliens bleiben aber unklar, da sie einerseits Opfer der "Phoenix Force" (jene Kraft, die Jeans Wandlung auslöst) sind, diese aber andererseits für sich nutzen wollen. Grundsätzlich schleppen sie ihr eigenes Trauma mit sich herum, aufgrund ihrer Handlungen sind sie aber einfach nur die Bösen. Es verwundert daher nicht, dass sie abseits von Jessica Chastain allesamt austauschbar sind und nur als Futter für Kampfszenen gegen die X-Men-Gruppe im Verlauf des dritten und finalen Aktes dienen.
Das Problem von "X-Men: The Last Stand" und "Dark Phoenix" ist damit weniger die "Dark Phoenix"-Saga, sondern die überhastete Herangehensweise an diese. Nur wenn Jean als Figur etabliert ist, genauso ihre Beziehung zu den übrigen X-Men, kann das Publikum die Tragik ihres Schicksals so ergreifen, wie sie es sollte. Stattdessen wendet sich beispielsweise Ororo nach einem dramatischen Vorfall augenblicklich von einer Figur ab, mit der sie die letzten neun Jahre verbracht hat. Wenn dies schon ihr so leicht fällt, warum sollte es dem Zuschauer, der diese Jean nur aus einem Film kennt, schwerer fallen? Ähnlich verhält es sich dann, wenn Erik einige seiner Mitstreiter mit auf seine Mission nimmt, diese aber nicht einmal bei ihren Namen/Codenamen genannt werden.
Wo die Ausarbeitung der Figuren scheitert, macht es die Action nur wenig besser. Die Weltraum-Mission zu Beginn ist eher Mittel zum Zweck, die übrigen Set-Pieces beschränken sich zwar darauf, nicht ins episch Weltzerstörerische abzudriften wie zuletzt in "X-Men: Apocalypse", wissen in ihrer Zentrierung aber auch keine rechte Wucht zu entfalten. Unklar bleibt dabei stets die inkonsistente Darstellung der jeweiligen Mutantenkräfte: behauptet Kurt/Nightcrawler im einen Moment, er müsse sehen, wo er hinteleportiert, gelingt ihm dies später aber auch so. Ähnlich Erik, der im zweite Aktes merklich Mühe hat, einen U-Bahn-Zug durch die Straßendecke an die Oberfläche zu befördern, im Finale aber einen ganzen Zugwaggon problemlos wie ein Stück Papier zerknüllt. Das nervt und wirkt wenig konsistent.
Wusste "X-Men: Apocalypse" immerhin mit Fanservice zu gefallen und zu unterhalten, will bei "Dark Phoenix" nicht einmal das gelingen. Vielleicht wäre hier eine Integration von Lilandra und den Shi’ar besser gewesen als von Vuk und den D’Bari. Aber auch die Tatsache, dass "Dark Phoenix" nach "X-Men" sowie "X-Men: The Last Stand" mit unter zwei Stunden die kürzeste Laufzeit hat, ist bei der Etablierung der Prämisse, Zusammenhänge und Ausmaße nicht allzu dienlich, da die Geschichte noch weniger Raum zur Entfaltung erhält als dies bereits der Fall ist. Sophie Turner wirkt sichtlich bemüht, ihrer eindimensionalen Figur soweit es geht etwas Dreidimensionalität zu verleihen, was sich von Jessica Chastain wiederum nicht sagen lässt.
Am einprägsamsten ist da noch Hans Zimmers musikalische Untermalung sowie ein minimal stärkerer Fokus auf Kurt/Nightcrawler, der an die Eröffnungsszene von "X2" erinnern darf. Sowohl Jennifer Lawrence als auch Evan Peters rücken leider nach dem ersten Akt in den Hintergrund und hinterlassen eine Lücke, die von Eriks Handlangern nicht gefüllt werden kann. So ist "Dark Phoenix" am Ende wie schon "X-Men: The Last Stand" ein reichlich enttäuschender Abschluss. Es mag das einzig Gute an der Fox-Übernahme durch Disney sein, dass sich das nächste Reboot der Mutanten-Truppe, wenn es um die "Dark Phoenix"-Saga geht, wohl die nötige Zeit nehmen dürfte.
6,5/10
Von TWENTIETH CENTURY FOX erschien der Film exklusiv bei zavvi UK auch im limitierten Steelbook in 4K Ultra-HD:
Quellen:
Inhaltsangabe: Twentieth Century Fox
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