In "Magnolia" werden die Geschichten von neun in L.A. lebenden Menschen miteinander verbunden, die sich an einem Tag ereignen. Wir treffen etwa auf den todkranken, an Krebs leidenden TV-Produzenten Earl Partridge (Jason Robards), der von Phil Pharma (Philip Seymour Hoffman) gepflegt wird und ihm seine Sünden beichtet. Earl liebte seine Frau, aber er betrog sie. Er bittet Phil, seinen Sohn Frank Mackey (Tom Cruise) zu suchen, der eine Macho-TV-Show unter dem Motto "Alle Macht den Schwänzen" mit großem Erfolg (unter Männern) leitet. Wir treffen weiter auf den Showmaster Jimmy Gator (Philip Baker Hall), ebenfalls krebskrank, der nur noch zwei Monate zu leben hat. Er leitet Earls beste Show "What did kids know?", in der drei Kinder gegen drei Erwachsene in einem Quiz antreten. Gator versucht angesichts seines bevorstehenden Todes, sich mit seiner Tochter Claudia (Melora Walters, mit einer phantastischen Leistung) auszusprechen. Er gesteht seiner Frau Rose (Melinda Dillon), dass er sie betrogen habe. Anderes kann er dagegen nicht aussprechen. An Gators Show nimmt Stanley Spector (Jeremy Blackman) teil, ein Superkind, das alles zu wissen scheint, angetrieben von einem ehrgeizigen Vater (Michael Bowen). Doch in einer Quizsendung weigert sich Stanley plötzlich, die Fragen Gators zu beantworten. Er will nicht mehr. Und dann ist da noch Donnie Smith (William H. Macy), früher "Quiz Kid Donnie Smith", wie Stanley war er als Kind gefeierter Showstar. Jetzt ist Donnie am Ende, entlassen von seinem Chef Solomon Solomon (Alfred Molina), unglücklich verliebt in einen Barkeeper, verzweifelt...
Magnolia verwebt etwa 10 Geschichten, jede mit brillanten Dialogen aus Andersons Feder, die von den Schauspielern und Schauspielerinnen in diesem filmischen Kaleidoskop mit präziser und hypnotischer Charakterentwicklung zum Leben erweckt werden. "Magnolia" ist ein Film über Traurigkeit und Verlust, über lebenslange Bitterkeit, über verletzte Kinder und Erwachsene, die sich selbst zerstören. Wie der Erzähler gegen Ende sagt: "Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns." In diesem Trümmerhaufen von Leben gibt es zwei Figuren, einen Polizisten und eine Krankenschwester, die tun, was sie können, um Hilfe, Hoffnung und Liebe anzubieten. Es ist ein Film, den man trotz einer Laufzeit von 188 Minuten immer respektieren, genießen und umarmen kann - doch mit der Zeit wird er zu einem Film, den man auch zutiefst und leidenschaftlich für seine Kühnheit, Originalität, Aussagen und einzigartige Vision lieben kann. "Magnolia" ist zweifellos ein Film, der nicht von allen angenommen wird. Regisseur Paul Thomas Anderson scheint mit seinem Ansatz, der von einigen als zu langatmig, zu schrullig und mehr auf Neuartigkeit als auf Originalität beruhend empfunden wird, recht leicht Ablehnung zu finden.
Der Film ist ja auch kein pures melancholisches Klagelied, er ist unterhaltsam, sogar lustig, immer faszinierend. Das zentrale Thema ist die Grausamkeit gegenüber Kindern und deren nachhaltige Wirkung. Dies ist eng verbunden mit der Abscheu oder der Angst, sich so zu verhalten, wie es einem gesagt wird oder wie man denken, dass man es tun sollte. Es gibt viele Hauptfiguren, aber die Laufzeit des Films gibt allen genug Zeit, um sie zu entwickeln und Leistungen zu erzielen, die sich auf Momente tiefer Selbstoffenbarung zu konzentrieren scheinen. Doch die Kinder sind der zentrale Punkt. Eines von beiden ist inzwischen erwachsen und nennt sich immer noch "Quiz-Kid Donnie Smith" (William H. Macy). Er war als Kind kurzzeitig in einer Fernsehsendung berühmt und erwartet immer noch, dass man sich an ihn erinnert. Jetzt arbeitet er in einem Möbelhaus, ist ein Trinker und braucht dringend Geld für eine Zahnspange, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie die Barkeeperin anzieht, in die er sich verknallt hat - und die ebenfalls eine Zahnspange trägt. Er philosophier immer wieder über seine Kindheit, aber sein rührendster Moment ist, als er weinend sagt, dass er weiß, dass er lieben kann, dass er weiß, dass er es wert ist, geliebt zu werden, aber nicht weiß, wohin mit seiner Liebe. Das andere schlaue Kind, immer noch etwa 9 oder 10 Jahre alt, ist Stanley Spector (Jeremy Blackman), das Star-Genie der Fernsehsendung "Was wissen Kinder?". Er hat auf alles eine Antwort. Aber bei einem entscheidenden Beitrag weigert er sich aufzutreten, weil er sich nach einem Toilettengang in die Hose gemacht hat und sich weigert, aufzustehen. Sein Vater schüchtert ihn ein.
Der Moderator der Show ist Jimmy Gator (Philip Baker Hall), der erfahren hat, dass er nur noch zwei Monate zu leben hat. Er hat Claudia (Melora Walters), seine Tochter aus zweiter Ehe, seit 10 Jahren nicht mehr gesehen. Sie glaubt, dass er sie belästigt hat. Er kann sich nicht erinnern. Jetzt ist sie hoffnungslos kokainsüchtig. Der Polizist (John C. Reilly), der vor ihrer Tür steht, bemerkt ihre nervösen Ticks nicht und lädt sie zu einem Rendezvous ein, das damit endet, dass sich beide eine tiefe Scham gestehen. Und später beobachtet derselbe Polizist, wie Quiz-Kid Donnie Smith versucht, einen Pfahl zu erklimmen, um in das Möbelhaus einzubrechen, hört sich sein Geständnis an, vergibt ihm und hilft ihm bei der Wiedergutmachung. Produziert wird die Show von "Big Earl" Partridge (Jason Robards). Sein lange entfremdeter Sohn ist der Motivationshändler Frank Mackey (Tom Cruise), der in Hotelkonferenzen Vorträge darüber hält, wie man Frauen erobern kann. Als er ein Kind war, verließ sein Vater den Jungen und seine Mutter, und Frank musste sie bis zu ihrem Krebstod pflegen. Jetzt liegt sein Vater an der gleichen Krankheit im Sterben, begleitet von Phil, dem Krankenpfleger (Philip Seymour Hoffman). Seine zweite Frau (Julianne Moore), die ihn wegen des Geldes geheiratet hat, stellt nun fest, dass sie ihn liebt und bereut, dass sie ihn betrogen hat. Der alte Mann murmelt seiner Krankenschwester unter Schmerzen zu, dass er seine erste Frau wirklich geliebt hat und sich selbst dafür hasst, dass er sie betrogen hat.
Das Erstaunliche an diesem Film, den Anderson im Alter von nur 28 Jahren geschrieben und inszeniert hat, ist, dass er so weise und mitfühlend ist. Er sieht, dass dass jeder Mensch seine Gründe hat. Als Film zieht er den Zuschauer unglaublich schnell in seinen Bann und lässt nicht mehr los. Der Film beginnt täuschend echt mit einer kleinen Dokumentation über erstaunliche Zufälle. Erzählt wird das Ganze von dem Magier und Zauberkünstler Ricky Jay, dessen Buch vor dem fleißigen kleinen Stanley aufgeschlagen wird. Jays Stimme taucht am Ende noch einmal auf, um daran zu erinnern, dass Zufälle und seltsame Ereignisse tatsächlich passieren und genauso real sind wie alles andere auch. Wenn man nur weit genug zurücktreten könnte, würde sich alles als Zufall entpuppen. Das, was wir "Zufall" nennen, beschränkt sich auf die, die man zufällig bemerkt. Wehrt sich der Film also gegen die Art und Weise, wie seine Leben miteinander verwoben sind? Ganz und gar nicht. Er argumentiert, dass der Mensch auf sein Verhalten achten muss, weil es eine Wirkung hat, die weit über die eigenen Fähigkeiten hinausgeht, sie zu beobachten. Ein kleiner Junge, der von seinem Vater verlassen wird und sich um seine sterbende Mutter kümmern muss, wächst zu einem Betrüger heran, der reich wird, indem er Männern beibringt, wie sie Frauen misshandeln sollen. Warum hasst er die Frauen und nicht die Männer? Tom Cruise hat eine Szene am Sterbebett seines Vaters, und seine Hände sind so fest geballt, dass die Finger blutleer erscheinen. Sein Hass gilt diesem Mann, aber wie hat er sich auf die Frauen übertragen? Sein Zusammenbruch während eines Vortrags spiegelt sich in dem kleinen Stanley und Jimmy Gator wider, die beide nicht mehr in der Fernsehshow auftreten können. Und die zweite Frau von Jason Robards (Julianne Moore) beichtet seiner Krankenschwester, kann aber dem alten Mann nicht beichten und sucht nach einem anderen Ausweg. Und Claudia kann sich bei einer Verabredung nicht so benehmen, wie sie sollte. Und früher in der Nacht hat der Polizist Schande über sich gebracht, als er seine Waffe verlor und nicht in der Lage war, eine Verhaftung vorzunehmen. Und Quiz Kid Donnie kann einem anderen Mann nicht sagen, dass er ihn liebt.In einer wunderschönen Sequenz schneidet Anderson zwischen den meisten Hauptfiguren, die alle gleichzeitig Aimee Manns "It's Not Going to Stop" singen. Eine inszenatorische Glanzleistung? Nein, bestimmt nur Zufall. Im Gegensatz zu vielen anderen "Hypertext-Filmen" mit miteinander verknüpften Handlungssträngen scheint "Magnolia" dieses Mittel auf eine tiefere, philosophischere Weise zu nutzen. Anderson sieht diese Menschen auf einer Ebene verbunden, die unterhalb jedes möglichen Wissens liegt, dort, wo Schicksal und Bestimmung liegen. Sie sind durch ihre Handlungen und ihre Entscheidungen miteinander verbunden. Und alles führt zu der bemerkenswerten, berühmten Sequenz am Ende des Films, als es Frösche regnet. Eine Möglichkeit, die ganze Geschichte in einen größeren Bereich unerklärlichen, aber realen Verhaltens zu erheben. "Magnolia" ist einer dieser seltenen Filme, die auf zwei völlig unterschiedliche Arten funktionieren. Auf der einen Seite erzählt er packende Geschichten, voller Details, mit Präzision und nicht wenig Humor erzählt. Auf der anderen Seite ist er eine Parabel. Die Botschaft der Parabel wird, wie bei allen guten Parabeln, nicht in Worten, sondern in Gefühlen ausgedrückt. Nachdem der Zuschauer den Schmerz dieser Menschen und die Liebe des Polizisten und der Krankenschwester gefühlt hat, erfährt man etwas Ungreifbares, aber Notwendiges. Es gibt kaum einen Film, der so zum Nachdenken, Fühlen und Hinterfragen bringt wie "Magnolia". Er bringt zum Lachen und Weinen. "Magnolia" ist ganz einfach ein Meisterwerk.
8,5/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Kinowelt / Studiocanal
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