https://www.imdb.com/title/tt7204348/
Carlos (Lorenzo Ferro) ist siebzehn und hat das Gesicht eines Engels. Doch hinter der blond gelockten Fassade lauert ein entschieden dunkleres Biest. Im sonnendurchtränkten Argentinien des Jahres 1971 klaut sich Carlos mit Hilfe seines neuen Freundes Ramón (Chino Darín) und dessen zwielichtigen Eltern durch die Villengegend von Buenos Aires. Im Gegensatz zu seinen Komplizen geht es Carlos aber nicht einfach um Bereicherung. Sein krimineller Drang ist vielmehr ein Urinstinkt, der in ihm schlummert und sich weiter und weiter entfaltet, bis der erste Mord schließlich ganz beiläufig von der Hand geht. Viele weitere werden folgen, und selbst seine Weggefährten sind entsetzt über die absolute Gleichgültigkeit des jungen Killers. Denn "El Angel" kennt keinerlei Moral und zieht eine Blutspur durch ein Land, das nicht weiß, ob es ihn fürchten oder lieben soll.
Ein Film über einen Räuber und Killer wirft oft die Frage nach der filmischen Umsetzung auf und bringt dann ebenso oft die Filme von Quentin Tarantino ins Spiel, der das Spiel zwischen Dialog und Gewaltausbrüchen perfektioniert hat. In "El Ángel" ist es nun erfrischend zu sehen, dass es auch anders geht. In dem biografischen Krimidrama verwandelt Regisseur Luis Ortega die Gewaltspitzen in eine stilistische Übung, die sich der Eigennützigkeit und dem Engagement für die Herstellung ähnlicher Streifen entledigt. Ortega übertreibt die für seinen Film wichtige Gewaltdarstellung nicht. Er legt eine Art Apathie darüber und setzt diese geschickt ein. Die Präzision und Emotionslosigkeit seines Stils ähnelt der Hauptfigur des Films, die auf dem argentinischen Serienmörder Carlos Robledo Puch basiert, und all dies führt zu einem beeindruckenden ästhetischen Experiment, selbst wenn der Zuschauer Gefahr läuft, dabei entfremdet zu werden.
In "El Ángel" ist Gewalt natürlich auch wenig ethisch, aber ihre Umsetzung ist unbefriedigend und klinisch. Sexuelles Verlangen bestimmt die Szenerie und oft auch das Verhalten der handelnden Figuren, sexuell gehandelt wird aber fast nie. Carlos (Lorenzo Ferro), ein Massenmörder mit Pokergesicht und blonden Locken, lässt den Zuschauer gleich in der ersten Sequenz wissen, dass er als Verbrecher geboren wurde - dass es für ihn immer natürlich ist, zu nehmen, das ihm nicht gehört. Seine Gewalt ist keine Frage von Rache oder Sadismus. Es ist eine Tatsache. Das Gesetz hält sich nur einfach nicht an ihn. Es gleitet ab, wie Ortegas gleitende Kamera, die auf so sinnliche Art und Weise auf Carlos Körper zugeht, davon wegzoomt und dieses Spiel wiederholt.
Die Handlung des Films und Carlos Psychose erinnern an Petr Kazda und Tomás Weinrebs "Olga Hepnarová", die fiktive Darstellung einer jungen Tschechin mit dem sehr realen Hintergrund, Anfang der 70er Jahre in Prag in eine Gruppe unschuldiger Menschen mit einem Lastwagen gefahren zu sein. Sie fuhr nach Medienberichten einfach weiter, mit einer stoischen Hingabe an ihrem Paroxysmus, als Körper zu Boden fielen und Menschenmengen schrien. Wie bei Olga in diesem Film ist Carlos Gesicht in "El Ángel" oft aufschlussreich, wenn er ein Verbrechen begeht, als wäre er gegen Schuldgefühle gefeit, wenn nicht sogar gegen Gefühle. In "El Ángel" liegt der Horror in der Wiederholung. Mit Hilfe seines Freundes, Ramón (Chino Darín), verbrennt Carlos Fahrzeuge, bricht in Häuser ein und erschießt, manchmal aus reinem Reflex heraus, Menschen - und mit der Natürlichkeit eines Kindes, das nach einem Glas Wasser greift, um seinen Durst zu stillen. Die beiden kommen sich so nahe, dass Carlos sein Elternhaus gegen das seines Freundes tauscht, und seine liebenswerte Mutter (Cecilia Roth) hinter sich lässt, um Zeit mit Ramóns waffenbesessenem Vater (Daniel Fanego) und der Mutter Ana María (Mercedes Morán) zu verbringen. Seltsam: in der Welt des Films sind argentinische Eltern entweder unaufhörlich mitschuldig oder über das Leben und den Aufenthaltsort ihrer Kinder total unbesonnen.
Die größte Leistung in "El Ángel" ist aber die Art und Weise, in der er die Beziehungen zwischen den Charakteren mit so viel Erotik belastet, aber niemals wirklich preis gibt, das Verlangen zu beobachten, abgesehen von dem Verlangen nach Gewalt, das sich tatsächlich entfaltet. Der Zuschauer ist ständig in den Auftakt zu sexueller Lust gefangen, doch hier scheint Gewalt die einzige Möglichkeit zu sein, diese Lust zu befriedigen. "El Ángel" ist nicht nur damit nicht jedermanns Sache. Es ist ein ruhiger Streifen, der über viele Längen verfügt - trotz seiner relativ kurzen Laufzeit. Er ist spannend, ohne Frage, und erzählt seine Geschichte. Ein wenig mehr Drive und Rohheit hätten ihm aber durchaus gut getan.
7/10
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