Als der abgehalfterte Cop Walker (Tom Hardy) zu einem Tatort gerufen wird, ist schnell klar: Drogengangster sind hier aneinandergeraten und haben ein blutiges Gemetzel veranstaltet. Auf einem Video entdecken die Sachverständigen jemanden, der der Hauptverdächtige zu sein scheint. Walker weiß sofort, wer da zu sehen ist: Charlie Beaumont (Justin Cornwell), der Sohn des einflussreichen Politikers Lawrence Beaumont (Forest Whitaker). Die beiden kennen sich aus früheren Zeiten und Beaumont hat etwas gegen Walker in der Hand, womit er ihn dazu zwingt, Charlie zu finden und in Sicherheit zu bringen - zumal der Junge wohl nicht der wahre Verantwortliche für das Massaker ist. Walker hat keine Wahl und begibt sich auf die Suche nach Charlie. Als er ihn schließlich findet, sind bald mehrere Mafia-Clans und auch Walkers eigene Kollegen hinter den beiden her und hinter allem steckt eine Verschwörung, die bis in höchste Kreise reicht.
Die Gewalt in "Havoc", Gareth Evans' neuem Spektakel sinnlos-spektakulären Blutvergießens, hat etwas fast Kuratorisches. Der walisische Drehbuchautor und Regisseur von "The Raid" und dessen übergroßer Fortsetzung choreografiert sein Chaos nicht nur gekonnt. Er führt den Zuschauer durch das Geschehen und lenkt den Blick in jedem knochenbrechenden Moment genau dorthin, wo er hin soll. Etwa in der Mitte dieses Netflix-Kriminalthrillers treffen sich die Charaktere in einem Nachtclub, wie ihn Blade oder John Wick oft im Blut ihrer tollkühnen Verfolger besudeln. Evans filmt die darauffolgende Schlägerei in schwindelerregenden Schwenks, rast durch den Raum, um jeden Körper einzufangen, der von einer Klinge gefällt oder übers Geländer geworfen wird. Seine Kamera bewegt sich wie ein drehbarer Kopf und verfolgt das Gemetzel mit dem Hyperfokus eines Schiedsrichters, der das Spielgeschehen nie aus den Augen verliert. Für uns wirkt es wie eine Live-Zusammenfassung von Schaden und Foul. Obwohl die Präzision der Kämpfe und die Ost-West-Kombination des Materials etwas anderes vermuten lassen, ist "Havoc" keine weitere skurrile "John Wick"-Imitation. Stattdessen hat Evans eine eher geldgierige und vertraute Unterweltsaga geschaffen und sie mit seiner Spezialität für virtuose Brutalität aufgepeppt. Ohne die exzessiven Kampfszenen gäbe es kaum noch etwas, was den Film von anderen Direct-to-Streaming-Prügeleien unterscheidet.
Selbst der Schauplatz ist generisch, ein leuchtender Platzhalter. Die Geschichte spielt über Weihnachten in einer unbekannten, von Kriminalität heimgesuchten und von Kugeln durchsiebten Metropole; auch die Stadt ist Ost-West-Mischung, insofern sie abwechselnd (wenn auch vage) New York und Los Angeles ähnelt, gespielt von einem digital retuschierten Cardiff. Der Einstieg in diese Welt ist Walker Mackey (Tom Hardy), ein Typ mit Dienstmarke. Hardys Präsenz ist so ziemlich das Einzige, was "Havoc" menschlich interessant macht; wie fast jeder Schauspieler hier spielt er einen typischen Genretyp: den zynischen Lebenslänglich-Polizisten, der von seinen Fehlentscheidungen ausgebrannt ist. Doch mit seiner stämmigen Gestalt, dem leisen Gemurmel und dem müden Macho-Gehabe strahlt er seine gewohnt raue Glaubwürdigkeit aus. Er ist der seltene moderne A-Promi, den man als echten Rohling kaufen kann.
Ein Kokain-Deal ist schiefgegangen, wie Kokain-Deals im Film so üblich sind. Ein verwöhnter Spross der Triaden liegt mit glasigen Augen in seiner Lasterhöhle. "Havoc" blickt auf die die Verfolgung der Sündenböcke, zwei verängstigte Mittzwanziger, die fälschlicherweise des Mordes beschuldigt werden; sie fliehen vor einem rachsüchtigen chinesischen Syndikat und einer verschworenen Task Force korrupter Polizisten sowie mindestens einem tugendhaften Neuling, der das Verbrechen nur aufklären, nicht rächen will. Keine der Figuren ist erwähnenswert. "Havoc" mischt immer mehr ins Spiel, wie einen korrupten Bürgermeister, gespielt von Forest Whitaker, und Timothy Olyphant als Anführer der bösen Polizisten, die Walker immer als Komplizen bezeichneten. Evans ist nahezu unübertroffen in der Inszenierung wilder Action und Prügeleien, die chaotisch wirken, aber offensichtlich sorgfältig abgewehrt werden, und "Havoc" erwacht zum Leben, wann immer er diese Fähigkeit anwendet. Die von ihm erdachte Geschichte dient lediglich als Gerüst für die Action, doch Evans scheint das nicht zu begreifen. Der Zsuchauer weiß instinktiv wohin die Reise geht. Wird Hardys Polizist sich für den Fehltritt, der ihm die Laune verdirbt, rehabilitieren? Bitte. Die einzige wirkliche Frage ist, wie viel Kollateralschaden er auf seinem Weg zur Absolution hinterlassen wird.
Damit genießt man letztlich die Momente, in denen alle aufhören zu reden und anfangen, aufeinander einzuschlagen oder eine ganze Waffenkammer Blei in Boden und Decke zu pumpen. Diese akrobatische Kamera - die nach vorne taumelt, um im Gefecht zu bleiben, so dynamisch wie die dem Untergang geweihten Martial-Arts-Handlanger, die sie filmt - folgt der goldenen Regel: Zeigen statt Erzählen. Das Gleiche gilt für die rasante Verfolgungsjagd zu Beginn, die nur unwesentlich weniger spannend ist, da sie offensichtlich komplett am Computer erstellt wurde - im Gegensatz zu den besten Road-Rage-Sequenzen in Hardys Lebenslauf. Solange "Havoc" das Versprechen von, nun ja, Chaos einlöst, vertreibt er die Zeit. Aber ein besser durchdachter Actionfilm hätte nicht so viel Zeit des Zuschauers verschwendet.
6/10
Quellen:
Inhaltsangabe: Netflix
Poster/Artwork: Netflix