Sonntag, 22. Juni 2025

Juror #2 (2024)

https://www.imdb.com/de/title/tt27403986/

Der Lifestyle-Autor Justin Kemp (Nicholas Hoult) steckt gerade inmitten der Vorbereitungen für die bald anstehende Familienerweiterung – seine Frau Allison (Zoey Deutch) ist im neunten Monat schwanger – als er zum Geschworenen in einem Mordprozess berufen wird. In diesem Prozess wird ein schreckliches Verbrechen verhandelt: James Sythe (Gabriel Basso) wird beschuldigt, seine Freundin Kendall (Francesca Eastwood) umgebracht und ihre Leiche in eine Straßenschlucht geworfen zu haben. Eigentlich sprechen alle Beweise gegen den Angeklagten, aber der Pflichtverteidiger Erik Resnick (Chris Messina) ist dennoch von der Unschuld seines Mandanten überzeugt. Doch für die Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) ist die Sache klar - zumal sie den Fall lieber heute als morgen beenden würde. Mit zunehmender Verhandlungsdauer kommt Justin ein schrecklicher Verdacht: Könnte er selbst etwas mit dem Fall zu tun haben? Am fraglichen Abend der Tat hatte er selbst auf dieser Strecke einen kleinen Unfall – jedoch war er bislang felsenfest überzeugt davon, lediglich ein verirrtes Reh mit dem Wagen angefahren zu haben...

"Juror #2" ist ein stilles Meisterwerk und ein tief bewegendes Spätwerk eines Filmemachers, der längst nichts mehr beweisen muss - und gerade deshalb mit umso größerer Freiheit erzählt. Clint Eastwood, mittlerweile eine Legende nicht nur vor, sondern seit Jahrzehnten auch hinter der Kamera, legt mit diesem Film ein Gerichtsdrama vor, das sich nicht in den konventionellen Bahnen des Genres bewegt, sondern sie bewusst unterläuft. Während Filme wie Rob Reiners "Eine Frage der Ehre" oder Sidney Lumets "Die zwölf Geschworenen" mit Dialogduellen, moralischen Zuspitzungen und dramatischen Zuspitzungen arbeiten, wählt Eastwood den entgegengesetzten Weg: Er reduziert, verlangsamt, beobachtet. Die Handlung - ein Geschworener, der während des Prozesses erkennt, dass er möglicherweise selbst eine entscheidende Rolle bei dem Verbrechen spielt - ist zwar spannungsgeladen, doch der Film interessiert sich weniger für den Plot als für die inneren Umwälzungen seines Protagonisten. "Juror #2" ist kein Film über Schuld und Unschuld, sondern über Verantwortung - über das stille Grauen, wenn man erkennt, dass man nicht länger Zuschauer, sondern Handelnder ist. Dieser Film lebt in der Leerstelle zwischen den Sätzen, dort wo die Entscheidung reift.

Eastwood inszeniert mit der ruhigen Hand eines Altmeisters. Die Kamera, unter der Leitung seines langjährigen Weggefährten Tom Stern, bewegt sich mit fast dokumentarischer Gelassenheit durch den Gerichtssaal, vermeidet künstliches Pathos und fokussiert stattdessen auf die Gesichter: auf das Zucken einer Augenbraue, das unruhige Klopfen eines Fingers, die langen, zögerlichen Blicke. Jeder Close-up scheint ein innerer Monolog zu sein. Es ist eine Kameraarbeit, die so transparent wie unaufdringlich ist - und gerade dadurch so wirkungsvoll. Die Farbtöne sind gedämpft, das Licht ist realistisch, fast klinisch, aber nie kalt. Stattdessen vermittelt die Bildsprache eine stille Menschlichkeit, eine Ehrfurcht vor den moralischen Konflikten, die sich hier abspielen. Sie erinnert an Lumets Arbeit in "Die zwölf Geschworenen", jedoch ohne dessen fast theatralischen Rahmen - Eastwood geht es weniger um Konfrontation als um Kontemplation.

Die Filmmusik, komponiert von einem zurückhaltenden, aber emotional ungemein effektiven Score (erneut mit jazzigen und klassischen Anleihen, die Eastwood so liebt), bleibt stets im Hintergrund, wie ein unterdrücktes Gewissen, das sich in zarten Streicherflächen und gelegentlichen Pianomotiven äußert. Nie drängt sich die Musik auf, sie kommentiert nicht, sie begleitet. Der Effekt ist erstaunlich: Der Zuschauer wird nicht emotional gelenkt, sondern bleibt mit sich und den eigenen Reaktionen allein - ein seltenes Vertrauen in das Publikum, das man nur noch bei wenigen Regisseuren findet.

Auch schauspielerisch ist "Juror #2" auf höchstem Niveau angesiedelt. Der zentrale Darsteller - Nicholas Hoult - liefert in der Rolle des zunehmend innerlich zerrissenen Juroren eine seiner bislang stärksten Leistungen. Sein Spiel ist von einer solchen Feinfühligkeit, dass man fast vergisst, einem fiktionalen Charakter zuzusehen. Hoult gelingt es, den schmalen Grat zwischen Schuld, Zweifel, Verdrängung und moralischer Aufrichtung mit jeder Szene präziser auszuloten. Neben ihm brilliert Toni Collette als Anklägerin mit kühler Präzision und einer latenten Verletzlichkeit, die sie nie direkt zeigt, aber spürbar werden lässt. Ihr Aufeinandertreffen mit dem Hauptcharakter bleibt ein psychologisches Kräftemessen auf leisen Sohlen. Auch die Nebenrollen - Richard E. Grant als vorsitzender Richter, Zoey Deutch als Mitgeschworene mit eigener Agenda - sind durchweg stimmig und weit entfernt vom typischen Hollywood-Funktionalismus. Jeder Charakter hat hier Geschichte, Tiefe, Nuance.

In Eastwoods Filmografie steht "Juror #2" in einer Linie mit seinen introspektiveren Werken wie "Mystic River" oder "Million Dollar Baby" - Filme, in denen das moralische Drama nicht durch äußere Konflikte, sondern durch innere Erschütterungen getragen wird. Doch "Juror #2" geht vielleicht noch einen Schritt weiter: Es ist ein Film über die Last, ein Mensch zu sein, über die Unmöglichkeit klarer Urteile und die Notwendigkeit, trotzdem zu handeln. In einer Welt, die von schnellen Meinungen, Schwarz-Weiß-Urteilen und digitalen Tribunalen geprägt ist, wirkt dieses Werk wie ein Plädoyer für die Grautöne - für das Zögern, das Zweifeln, das Ringen um das Richtige. Eastwood, der in seinen besten Filmen immer wieder der Frage nach Schuld und Sühne, nach Wahrheit und Gnade nachgeht, hat mit "Juror #2" vielleicht seinen stillsten, aber auch seinen konsequentesten Beitrag zu diesem Thema geleistet.

Im Vergleich zu den großen Gerichtsklassikern der Filmgeschichte wirkt Eastwoods Film wie ihr ruhiger, nachdenklicher Bruder: weniger auf rhetorische Höhepunkte fokussiert, dafür tiefer verwurzelt in den psychologischen und ethischen Konsequenzen, die ein Schuldspruch - oder ein Freispruch - nach sich ziehen kann. "Juror #2" ist kein Spektakel, sondern eine Meditation, ein Kammerspiel von großer emotionaler Reichweite, ein Film, der nachhallt - nicht, weil er laut ist, sondern weil er uns zwingt, in uns selbst hineinzuhorchen. Und vielleicht ist das, gerade heute, die radikalste Form von Kino.

8/10

Quellen:
Inhaltsangabe: Warner Bros.

Poster/Artwork: Warner Bros.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen