Samstag, 25. November 2023

[KINO] Napoleon (2023)

https://www.imdb.com/title/tt13287846/

Während der hartnäckige und skrupellose französische Heerführer Napoleon Bonaparte (Joaquin Phoenix) innerhalb kürzester Zeit zum Kaiser von Frankreich aufsteigt, erobert er gleichzeitig das Herz von Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby). Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur Napoleons taktisches Genie und seine großen Schlachten. Aus der Sicht seiner einzig wahren Liebe wird vor allem die unbeständige, destruktive Beziehung beleuchtet, die Napoleon in einen aussichtslosen Kampf um ihre Anerkennung und an den Rand der Zerstörung bringt...

"Alle Kunst ist autobiografisch“, sagte einmal der italienische Regisseur und Drehbuchautor Federico Fellini. "Die Autobiographie ist die Perle der Auster." Niemand würde "Napoleon", Ridley Scotts knapp zweieinhalbstündigem Epos (das ist wohlgemerkt die Laufzeit der Kinofassung, es gibt angeblich auch eine vierstündige Version), den Aufstieg und Fall des französischen Diktators, vorwerfen, lediglich eine Autofiktion in zeitgenössischer Kleidung zu sein. Nein, "Napoleon" ist ein ansprechender, teilweise anspruchsvoller, aber durchgängig unterhaltsamer Film, beginnend mit der Französischen Revolution und endend mit Monsieur Bonapartes Abgang aus dieser sterblichen Hülle. Dennoch ist die mitreißende, prahlerische und gelegentlich strauchelnde Geschichtsstunde des Regisseurs nichts weiter als ein Versuch, die Magie des Roadshow-Films vergangener Zeiten heraufzubeschwören. Scott zeigt mit Leichen übersäte Schlachtfelder, eine Besetzung aus tausenden Komparsen, Korsetts in Hülle und Fülle und erläuternde Zwischentitel in kursiven Schriften. Es gibt Bilder, bei denen man sich wünscht, die große Leinwand wäre noch größer, um deren Ausmaß und Umfang richtig zu erfassen, und einen Pomp und eine Atmosphäre, die nach Prestige schreit, selbst wenn der Film selbst es nicht heraufzubeschwören scheint.

Aber es gibt auch ein schwelendes Gefühl der Bewunderung für den "kleinen Korporal", der große Armeen befehligte, und der in Scotts Film "Napoleon" wunderbar zum Ausdruck kommt. Und es ist so greifbar, dass man sich fragt, ob sich in diesem Porträt eines Kaisers nicht auch Hinweise auf ein Selbstporträt verbergen. Wir sprechen hier von einem Mann, der aus bescheidenen Verhältnissen stammte, der wusste, dass er zu Größerem bestimmt war, und der dann sein Schicksal selbst in die Hand nahm, als sich die Gelegenheiten ergaben - und der eine Mischung aus strategischer Intelligenz, selbstverständlichen Führungsqualitäten, Groll und einem Instinkt für große Gesten in ein Rezept für den Sieg verwandelte. Dieser Mann hat jetzt einen Film über Napoleon Bonaparte gedreht, und es gibt Momente, in denen man sich vorstellen kann, wie der legendär optimistische, unermüdliche 85-jährige Regisseur den aufstrebenden Autokraten in der Mitte seiner riesigen Leinwand anstarrt und sich denkt: "hätte auch ich sein können".

Natürlich fasziniert Napoleon Bonaparte seit Jahrzehnten Filmemacher und er ist Gegenstand sowohl eines Kandidaten für den besten Film aller Zeiten (Abel Gances brillanter, pleite gegangener "Napoléon" aus dem Jahr 1927) als auch für den besten Film, der nie gedreht wurde - Stanley Kubricks Bonaparte-Projekt mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Er enthält Unmengen an geschichtlichem Stoff, weshalb Scott im Grunde nicht nur einen, sondern drei Filme über Napoleon gedreht hat - sie sind einfach als eine Einheit verpackt.

Der erste versetzt den Zuschauer nicht so sehr in die 1790er-Jahre, sondern in die 1960er-Jahre, als die Säle voller Geschichten von mutigen Herren waren, die noch mutigere Hüte trugen und auf Pferden durch Breitbild-Landschaften ritten. Scott hatte schon immer sowohl ein Händchen als auch eine Schwäche für das Epos der alten Schule, egal ob sie in Mode waren oder nicht. Für einen Großteil der ersten Hälfte von "Napoleon" legen der Regisseur, der Kameramann Dariusz Wolski und das Produktionsteam großen Wert auf die Inszenierung üppiger Bankette, Schlachten und publikumsträchtiger Sequenzen wie Marie Antoinettes Enthauptung, die vor Retro-Kram nur so sprühen. Dies ist Bonapartes "Aufstiegsphase", und der Film ist bestrebt, dem wachsenden Selbstwertgefühl seines Subjekts gerecht zu werden. Wenn auch nicht immer seine Vision - das erste große Bühnenstück, Napoleons nächtliche Belagerung von Toulon, ist so düster, dass es das düstere Scharmützel von "House Of The Dragon" locker in den Schatten stellt. Es ist, als hätte Scott beschlossen, zu seinem Debüt, "Die Duellisten" aus dem Jahr 1977, zurückzukehren , und alles überdimensionieren.

Doch hinter jedem großartigen Mann steht eine noch großartigere Frau, und ungefähr zu der Zeit, als sich Napoleon von Joaquin Phoenix und Josephine von Vanessa Kirby auf einer Party in die Augen sehen, beginnt sich Scotts zweiter Film zu entwickeln - eine übermütige Romanze, die zwischen mitreißender Liebesgeschichte und gedämpfter Sexkomödie durch das Spektakel schwankt. Nachdem der Film Bonapartes Gier nach Ruhm dargelegt und die verwitwete Josephine sowohl als obskures Objekt der Begierde als auch als gleichermaßen engagierte Streberin vorgestellt hat, beginnt er, einen schlagtrunkenen Blick auf ihre allgemeine Gier nacheinander zu richten. Sie verführt ihn zunächst, indem sie ihren Rock hochhebt und ihm sagt: "Wenn du nach unten schaust, wirst du eine Überraschung sehen"; Später drückt er sein fleischliches Verlangen aus, indem er unter Tische kriecht oder wie ein Pferd grunzend wiehert und mit dem "Huf" stampft.

Selbst wenn man sich an die derben Eskapaden brünstiger Aristokraten auf dem Bildschirm gewöhnt hat, ist die fleischliche Gemeinschaft zwischen dem Ersten Konsul der Französischen Republik und seiner First Lady etwas besonders Verrücktes. Es ist weniger eine Amour fou als vielmehr eine Amour WTF. Man kann nicht sagen, dass Phoenix, der seine charakteristische Intensität zeigt, oder Kirby, die weiß, wie man mit der Kamera spielt, um maximale Wirkung zu erzielen (nur wenige zeitgenössische Schauspieler schaffen mehr mit einfachem Blickkontakt), sich nicht auf diese Momente einlassen. Im Gegenteil, sie greifen die verrückten Aspekte dieser Liebesszenen so verbissen auf, dass man sich fragt, ob die Grenze zwischen pervers und urkomisch tatsächlich unsichtbar ist. Macht ist ein Aphrodisiakum. Offensichtlich handelt es sich dabei um buchstäbliche Spielereien und die diskrete Zurschaustellung eines künftigen königlichen Orgasmus. Scott schwankt sanft zwischen seinem Können, eines gut choreografierten Gemetzel, komplett mit jeder Menge Kanonenfeuer, groben Körperverletzungen, ausgeweideten Pferden, Säbelschwingen und Ausweiden - ("Unterhalte ich euch nicht?!")- und mit einer Art Erotik zu flirten, die zu Kicheranfällen führen könnte. Und dann gibt es aus heiterem Himmel einen Cut. Napoleon hat bereits bewiesen, dass er ein militärisches Genie schlechthin ist, hat die französische Regierung gestürzt und sich selbst zum Titanen erklärt. Europa gehört praktisch ihm. Und dann, während er mit den Engländern verhandelt, jammert Napoleon: "Du denkst, du bist so großartig, nur weil du Boote hast!"

Plötzlich ist Bonaparte nicht einmal mehr ein Knabenkönig. Er ist ein gereiztes Kleinkind mit Dreispitz, ein Anführer von Männern, die scheinbar an einem niedrigen Blutzuckerspiegel leiden. Es wäre der großartigste Dialog der Filmgeschichte, aber ein noch besserer steht vor der Tür: Nachdem Josephine ihrer Geliebten vorwirft, dick zu sein, stimmt Napoleon zu, dass er seine Mahlzeiten zwar nicht mit Bedacht wählt, aber zu sehr liebt. Angesichts der Tatsache, dass er in vergleichsweise kurzer Zeit so Großes erreicht hat, glaubt der Diktator jedoch, dass er sich das Recht verdient hat, sich solchen Exzessen hinzugeben. "Das Schicksal hat mich zu diesem Lammkotelett geführt!" Er schreit, und man erinnert sich, warum Phoenix‘ Spektrum Johnny Cash, Jesus, den Joker und Joaquin Phoenix umfassen kann. Was er mit diesem Satz macht, ist nicht nur wahnsinnig. Es kommt einem Wunder nahe. Und untrm Strich bekommtman mit "Napoleon" genau den Film, den man von Ridley Scott erwarten durfte. Geschichtlich nicht immer ganz auf der Höhe und somit oft schmerzhaft für Historiker, dennoch wunderbar unterhaltsam und mitreißend.

8/10

Quellen
Inhaltsangabe: Sony Pictures
Poster/Artwork: Sony Pictures

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