https://www.imdb.com/title/tt7784604/
Trotz einiger Tragödien in der Vergangenheit führt die Familie Graham, bestehend aus Mutter Annie (Toni Collette), ihrem Mann Steve (Gabriel Byrne) und ihren beiden gemeinsamen Kindern Peter (Alex Wolff) und Charlie (Milly Shapiro), ein recht beschauliches Leben in einem abgelegenen Haus am Waldrand. Annie ist Galeristin und baut für eine Ausstellung zu Hause aufwändige Miniaturmodelle, Peter schlägt sich mit den üblichen Teenagerproblemen rum und Charlie ist eine leicht schräge Außenseiterin. Doch als Annies Mutter Elen stirbt, das unangefochtene Familienoberhaupt, sehen sich die Grahams plötzlich mit reihenweise rätselhaften und unheimlichen Ereignissen konfrontiert. Nach und nach kommen sie einem grauenhaften Familiengeheimnis auf die Spur und müssen sich mit dem Schicksal auseinandersetzen, das ihnen ihre Ahnen hinterlassen haben…
"Hereditary" ist definitiv nichts für schwache Nerven. Schon der Trailer, der sehr inflationär auf dem FantasyFilmFest nights lief, hinterließ den Zuschauer mit einem interessiert-mulmigen Gefühl und der Film liefert auch, was man aufgrund dessen erwartet. Es ist kein Gruselfilm, der mit ewig vorhersehbaren Jump-Scares arbeitet und bei dem man sich mit einem Kreischen erschrecken würde, aber dieses Spielfilmdebüt hat schon seine Schock-Momente, die einem bis in den Magen fahren. Wobei man sagen muss, dass "Hereditary" eher ein Drama mit richtig guten Gruselelementen ist, als ein waschechter Horrorfilm, den so manch einer vielleicht erwarten würde. Der US-amerikanische Regisseur und Drehbuchautor Ari Aster setzt seine Gruselelemente spärlich ein, dafür sind diese dann aber auch um so effektiver. Er ist eindeutig ein geborener Meister des Grauens.
Aber das Gruseligste in "Hereditary", ein Film, der unterschwellig beständig ein unangenehmes Gefühl des Unwohlseins und der Angst beim Zuschauer erzeug, ist ein Geräusch. Es ist das Geräusch, das man macht, wenn man mit seiner Zunge schnalzt und diese in den Gaumen herunterschnellen lässt. "Klokk". Ein Geräusch, das man eher selten macht, es sei denn man wollte das Traben von Pferden imitieren. Aber Charlie Graham (Milly Shapiro), ein niemals lächelndes Mädchen von dreizehn
Jahren, klokkt mit beunruhigender Häufigkeit. Sie wird von der Newcomerin Milly Shapiro so porträtiert, dass sie gleichzeitig Sympathie und tief sitzende Unruhe hervorruft. Dieses "Klokk" ist ihre akustische Signatur, ihr Geräusch, und ihr Bruder Peter (Alex Wolff), der ein paar Jahre älter als Charlie ist, hört selbst nach Einbruch der Dunkelheit noch dieses "Klokk" in der Ecke seines Schlafzimmers, auch wenn sie nicht da ist. Wolff porträtiert sensibel den älteren Bruder Peter als Teenager, der in gewissem Sinne nicht erwachsen wird - und das in einer psychologisch spröden Lebensphase, die ihn zwischen hier und jetzt hin- und her reißt. Und überhaupt: die meisten Leute in dem Film wissen selbst nicht recht, was sie glauben sollen oder wie sehr sie ihren Augen und Ohren trauen können. Die Mutter Annie (Toni Collette), kann nicht sagen, ob sie ihre eigenen Emotionen trauen kann. Ihre Mutter ist gerade gestorben, und Annie ist amüsiert oder halb beschämt darüber, dass sie sich nicht allzu traurig fühlt. Aber dann, wie sie bei der Beerdigung zu gibt, war ihre Mutter eine geheimnisvolle Person, die "eigene Rituale" besaß. Dieser Satz hallt durch die Geschichte wie ein Flüstern in einer Höhle. Szene um Szene trägt die hermetische Strenge eines Ritus, den Außenstehende - oder auch andere Mitglieder des Haushalts - vielleicht gar nicht verstehen. Dieses Gefühl der Inklusion ist eine Art Konserve. Annies Ehemann, Steve (Gabriel Byrne) passt perfekt dazu, ist undurchsichtig und düster und hat irgendwo auch sein Päckchen zu tragen. Aber man findet dies nie heraus, ebensowenig, was er für seinen Lebensunterhalt tut. Byrne spielt die Rolle des beständigen, uninteressanten, alles zusammenhaltenden (und versagenden) Vaters Steve angemessen solide. Und so wird jede Figur in diesem Film punktgenau beleuchtet, man erfährt nicht zu wenig, doch gerade über Charlie und Annie lernt man vielleicht mehr, als man sich eigentlich wünscht. Und was Toni Collette in der Hauptrolle der Annie angeht, so versetzt Aster sie wirklich in die Krise, indem sie ihren Leidensgenossen Probleme zufügt, die vergleichbar mit denen sind, die sowohl Essie Davis in "The Babadook" als auch Ellen Burstyn in "The Exorcist" erlitten hat.
"Hereditary", so merkt man, schwimmt gekonnt auf der aktuellen Welle des sogenannten neuen "American Horrors" mit, der so tolle Filme wie "A Quiet Place", "Get Out" oder "It Follows" hervorgebracht hat, fühlt sich aber dadurch eher inspiriert als abgelenkt. Aster spielt mit vielen als solche erkennbaren Ideen und Elementen, formt sie aber zu etwas, was einem frisch und unverbraucht erscheint. Ja, es gibt heidnische Symbole und Kerzenlicht-Séancen. Und es lauern fürchterliche Dinge in deren Schatten. Aber all dies wird ruhig und gekonnt erzählt und mit vertrauten Unsicherheiten gespielt, was letztlich in der Frage gipfelt, wer für unsere eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich ist: unsere Eltern? Wir selbst? Oder etwas ganz anderes? Mit wunderschöner Kubrick'scher Präzision und eleganten Trompe-l’œil-Techniken wird "Hereditary" präsentiert, von einem schleichenden Zoom in den Raum eines Modellhauses (das dann unmerklich, verstörend in das reale Haus übergeht), zu langen, gleitenden Single-Takes um die Graham-Familie herum, nach Hause, zum Widerschein von hellroten Lichtern in den tränenden Augen eines Charakters, zu den stechschnellen Schnitten, die den schon längst gebannten Zuschauer von Nacht zu Tag und wieder zurückschleudern.
Ein endzeitartiger, elektronischer Puls untermalt den größten Teil des Films dazu passend akustisch, so dass man auch aufgrund des Soundtracks unangenehm im Sessel hin- und herrutscht, selbst wenn das, was auf dem Bildschirm passiert, unschuldig oder banal erscheint. Alles wirkt bedrohlich. Und vor allem die Orte, an denen man sich am sichersten fühlen sollte. "Hereditary" ist verwirrend. Der Film hat den Nerv, zu behaupten, dass die soziale Einheit per Definition selbstbedrohend und dass das eigene Zuhause nicht länger ein Heiligtum ist,
sondern eine bröckelnde Festung, die von innen belagert wird. Deshalb gibt es in Asters Film keine Ärzte und auch keine Detektive, die beide dringend benötigt werden, noch kommt ein Mann Gottes, wie er es in "Der Exorzist" tut, um Ängste zu stillen. "Hereditary" ist ein rohes Horror-Meisterwerk von einem Regisseur, das es jetzt schon wert ist, im selben Atemzug wie die Großen des Genres erwähnt zu werden. Selbst der abgestumpfteste Betrachter sollte hier etwas finden, um sich einmal mehr unbehaglich und gespannt unterhalten zu fühlen, denn nichts, kurz gesagt, kann Annie, Steve und den Kindern helfen, und sie können sich sicher nicht helfen, stationiert, wie sie in ihrem zarten Puppenhaus einer Welt sind. In diesem bemerkenswerten Film gibt es keinen Familienfluch. Die Familie ist der Fluch. Und diese Ausarbeitung des Themas ist nahezu genial.
8/10
Von SPLENDID erschien der Film exklusiv bei Müller im auf 2.000 Stück limitierten Mediabook.
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