Die neunjährige Benni Klasß (Helena Zengel) heißt eigentlich Bernadette, hasst es aber, wenn sie so genannt wird. Genauso wenig kann sie es leiden, zu immer neuen Pflegefamilien gesteckt zu werden, die sie daher absichtlich jedes Mal vergrault. Denn Benni will einfach nur bei ihrer Mutter Bianca (Lisa Hagmeister) leben. Die hat allerdings Angst vor ihrer Tochter und hat sie deswegen überhaupt erst abgegeben. Keine leichte Situation für das Jugendamt, die für Kinder wie Benni einen eigenen Begriff hat: Systemsprenger. Nachdem Benni praktisch jedes Programm, dass das System für Kinder wie sie bietet, durchlaufen hat, ist der Anti-Aggressionstrainer Micha (Albrecht Schuch) die letzte Hoffnung, der sonst eigentlich mit straffälligen Jugendlichen arbeitet. Micha fährt mit Benni für drei Wochen in die freie Natur, um sie intensiv pädagogisch zu betreuen. Kann er Benni von ihrer selbstzerstörerischen Kraft erlösen?
Was ist ein Systemsprenger? Dieser Begriff ist kaum einem Menschen bekannt. Wikipedia liefert darauf eine ausführliche Antwort: "Als Systemsprenger werden Klienten in Pädagogik und Psychiatrie bezeichnet, für die es noch keine geeigneten sowie erfolgreich nachgewiesenen Hilfemaßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe gibt. Sie wechseln häufig die Hilfen und die Hilfeorte und erfahren dadurch erneute Bindungsabbrüche. Ein "Ankommen" in weiterfolgende Maßnahmen erweist sich daher als erschwert. Systemsprenger sind Personen, die aufgrund ihres besonderen Problemverhaltens nur schwer in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe respektive der Behindertenhilfe integriert werden können. Infolgedessen werden sie entweder von Einrichtung zu Einrichtung durchgereicht oder sie ziehen sich ganz zurück, fallen aus dem sozialen Netz, werden obdachlos oder straffällig."
Im Mittelpunkt dieses düsteren Dramas von Regisseurin Nora Fingscheidt steht eine erschreckende Darstellung der neunjährigen deutschen Schauspielerin Helena Zengel. Sie spielt Benni, ein gewalttätiges, unkontrollierbares und beinahe verwildertes Problemkind, das das Jugendamt bis an seine Grenzen und sogar darüber hinaus ausreizt. Anfänglich könnte man noch meinen, dass Benni einfach nur eine stürmische Naturgewalt ist, mit der der Zuschauer sympathisieren sollte, und die sich dagegen wehrt, von einer öden Autorität erdrückt zu werden. Aber so läuft dieser grausige, fesselnde Film nicht ab. Die meiste Zeit ist Benni einfach nur unberechenbar und furchteinflößend, eine angehende Soziopathin, scheinbar völlig unbelehrbar und nicht zu bessern, schrecklich zu den Menschen, die ihr helfen wollen - und vor allem eines: allein gelassen. Benni hat eine durchaus charmante Ader, die eine Reihe von Sozialarbeitern dazu verführt, emotional auf sie einzugehen, für sie Risiken einzugehen, sich für sie ins Zeug zu legen. Und doch hilft das alles nichts, denn selbst wenn man glaubt, dass sie den Punkt erreicht hat und eine Besserung eintritt, schlägt sie um sich, schreit, lacht gekünstelt, flucht.
Ihre Sozialarbeiterin, Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide), versucht beharrlich und ohne aufzugeben, Benni in Sonderschulen oder -einrichtungen unterzubringen, Benni unterzubringen, damit das Kind zur Ruhe kommt. Doch Dutzende lehnen sie ab, und Benni ist zu jung, um effektiv als stationäre Patientin eingewiesen zu werden. Während Benni dabei unheimlich unberührt bleibt, fordert die Belastung ihren Tribut von Bafané und macht sie zu einem emotionalen Wrack, was letztlich in einer der emotionalsten Szenen des Films mündet, in der sich Bennis eigene Mutter von ihr abwendet. Beinahe dasselbe gilt für ihre Bezugsperson, anfänglich Schulbegleiter, später eine Art Freund und sogar väterliche Bezugsperson, Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch), ein harter, junger Kerl, der sich nicht unterkriegen lässt und Benni für einen Aufenthalt in seiner Hütte im Wald mitnimmt. Urlaub. Urlaub von der Welt. Kein Telefon, kein Internet, kein Strom.
Es ist eine Reise, die eine fast unangemessene Intimität mit diesem intensiven Kind beinhaltet - ein Risiko, das dem völlig unschuldigen Micha anscheinend nicht in den Sinn gekommen ist. Und während die Einsätze in diesem "Spiel" immer höher werden, beginnen Grenzen und Regeln aufzubrechen und lässt den Zuschauer Fragen stellen. Fragen, wie emotional man sich an ein Kind binden darf. Micha hat strikte Regeln und als sich Benni irgendwann Nachts zu ihm kuschelt findet man das äußerst berührend. Doch jäh wird man aus diesem kurzen Moment des Friedens herausgerissen, als Micha bemerkt, dass Benni bei ihm liegt und sie recht unsanft aus seinem Bett befördert. Es ist eine furchtbare Szene, die eigentlich nur aussagt, dass Benni Liebe, Zuneigung und vor allem eine Bezugsperson braucht - die sie niemals bekommt. "Ankommen" gibt es für Benni nicht - und genau das ist das Problem. Es gibt Momente, in denen Helena Zengels Benni mit anderen Kindern, insbesondere jüngeren Kindern, Babys, auftritt, in denen man das seltsame Gefühl hat, dass dies kein Schauspiel ist - es passiert tatsächlich. Sie ist das Herzstück dieses packenden Films und liefert ein großartiges Schauspiel, von dem man einmal zu oft das Gefühl hat, das es eben real und eben nicht gespielt ist. Das Ende lässt den Zuschauer mit Fragen zurück und liebende Eltern vermutlich nassen Augen. Kurzum: "Systemsprenger" ist ein Meisterwerk, ein grausiger, packender Film.
10/10
Quellen:
Inhaltsangabe: EuroVideo
Poster/Artwork: Kineo Filmproduktion/Weydemann Bros.
Testauszüge: Wikipedia
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