Der junge Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) findet auf einer Wiese ein abgeschnittenes Ohr. Nachdem er das Körperteil der Polizei übergeben hat, beschließt er, selbst der Sache weiter nachzugehen. Sandy Williams (Hope Lange), die Tochter eines Polizisten, bringt ihn auf die Spur der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini), mit der er sich bald auf eine sado-masochistische Beziehung einlässt. Schnell bekommt Jeffrey mit, dass Dorothy von einem Perversen (Dennis Hopper) missbraucht und erpresst wird...
Man ist keine 5 Minuten in diesem Film drin und man weiß: das ist ein David Lynch. Und "Blue Velvet" ist auch einer der zentralen Filme im Œuvre David Lynchs, weil er das vermeintlich Idyllische der US-Vorstadt gnadenlos mit unterdrückter Gewalt, Sexualität und Trauma kollidieren lässt. Gleichwohl ist er ein Schlüsselwerk des amerikanischen Kinos der 1980er-Jahre. Entstanden mitten in der Reagan-Ära, seziert der Film das konservative Bild der sauberen Kleinstadt, indem er zeigt, was unter der gepflegten Oberfläche fault - im wahrsten Sinne des Wortes, wenn die Kamera vom grünen Rasen in die wimmelnde Insektenwelt unter der Erde fährt.
"Blue Velvet" erschien 1986, also in einer Phase, in der Hollywood sich einerseits dem Blockbuster-Kino verschrieb, andererseits aber ein eigenwilliges Autorenkino im Independent-Bereich zuließ. Lynch nutzt diese Freiheit, um klassische Genremuster - Krimi, Film noir, Melodram - mit surrealistischen Strategien zu verbinden und damit das Selbstbild der amerikanischen Mittelschicht in der Reagan-Ära als ideologische Konstruktion zu entlarven. Die bewusst altmodisch wirkenden musikalischen und visuellen Bezüge auf die 1950er- und frühen 1960er-Jahre verstärken den Eindruck, dass hier eine nostalgische, aber trügerische "heile Welt" unterlaufen wird, die nur noch als Zitat existiert.
Die Story folgt dem Studenten Jeffrey Beaumont, der nach dem Fund eines abgeschnittenen Ohres in eine kriminell-sexuelle Unterwelt hineingezogen wird, die sich hinter der Fassade des Städtchens Lumberton verbirgt. Filmwissenschaftlich auffällig ist die konsequente Arbeit mit Dualitäten: hell/dunkel, Vorstadtidylle/urbaner Sumpf, Unschuld/Pervertierung, Traum/Realität - strukturiert durch visuelle Gegensätze, Tongestaltung und eine streng motivierte Farbdramaturgie. Die wiederkehrenden Einstellungen von Oberflächen (Rasen, Haut, Stoffe) und das motivische "Hinabsteigen" - in Wohnungen, Hinterräume, in das Innere eines Ohres - markieren den Übergang von der sichtbaren, sozial akzeptierten Realität in eine verdrängte, unbewusste Sphäre, was psychoanalytische Lesarten (vor allem die des Surrealismus) nahelegt. Kyle MacLachlan spielt Jeffrey als Mischung aus naivem Boy-Next-Door und latent fasziniertem Voyeur - seine Entwicklung vom neugierigen Beobachter zum moralisch kompromittierten Mitspieler macht die Attraktivität des "Dunklen" erfahrbar, ohne sie zu entschuldigen. Isabella Rossellini verkörpert die Nachtclubsängerin Dorothy Vallens mit einer Verletzlichkeit, die sich ständig mit masochistisch gefärbter Sexualität überlagert; ihre Figur fungiert als Projektionsfläche männlicher Fantasien, ist zugleich aber traumatisiertes Subjekt, das unter Erpressung und sexualisierter Gewalt versucht, minimale Handlungsfreiheit zu bewahren. Dennis Hopper setzt als Frank Booth einen radikal exzessiven, zugleich erschreckend präzise komponierten Sadisten in Szene, dessen kindische, in jedem zweiten Wort von einem "fuck" geprägten, Sprachmuster, Atemgerät-Rituale und plötzliche Gefühlsumschwünge ihn weniger als "Monster" denn als grotesk entgleistes Produkt derselben Kultur erscheinen lassen, die sich in Lumberton so gern als sauber und moralisch intakt inszeniert.Aus filmwissenschaftlicher Perspektive gilt "Blue Velvet" heute als paradigmatisches Beispiel postmoderner Ästhetik im Kino: Zitatkultur, Genre-Hybridisierung, Ironie und bewusste Künstlichkeit verbinden sich zu einer Reflexion über Bilder und Begehren selbst. Der konsequent inszenierte Voyeurismus - vom Prolog über Jeffreys Spionieren bis zur Zuschauerposition - verwandelt das Publikum in Komplizen der neugierigen, lustvollen, zugleich schuldbewussten Blicke; der Film thematisiert damit die Bedingungen des Kinos selbst als Apparat der Sichtbarmachung und des Begehrens. "Blue Velvet" markiert so einen Übergang in Lynchs Werk: zwischen der noch relativ klassischen Narration von "The Elephant Man" und der radikalen Traumlogik späterer Filme wie "Lost Highway" oder "Mulholland Drive", bleibt aber gerade durch seine klare Grundkonstellation einer der zugänglichsten und gleichzeitig analytisch ergiebigsten Filme seines Schaffens.


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